Laufgemeinschaft der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung e.V.

 

Trophäen 

Premiere des Bienwald Backyard Ultra

 

Am langen Feiertagswochenende über Fronleichnam haben drei Läufer der LG Ultralauf an der Premierenveranstaltung des Bienwald Backyard Ultra im pfälzischen Kandel teilgenommen.

Das Konzept „Backyard Ultra“

Die Idee des Laufs orientiert sich am „Last Man Standing“-Format und ist so simpel wie grausam: Die Läufer/innen absolvieren jede Stunde eine Runde mit einer Streckenlänge von 6,706 km. Die Runde ist innerhalb der angefangenen Stunde zu absolvieren, ein Früh- oder Spätstart zu einer neuen Runde ist nicht möglich. Zu jeder vollen Stunde gibt es einen neuen Start. Das Rennen dauert so lange, bis nur noch ein/e einzige/r Läufer/in übrig ist. Diese/r muss die letzte Runde allein absolvieren, sonst gibt es keine/n Gewinner/in.

Die krumme Distanz von 6,706 km ergibt eine Tagesbilanz von genau 100 Meilen (160,9 km).

Die Läufer/innen haben die Möglichkeit, sich bis zum nächsten Rundenstart zu verpflegen und zu erholen. Dafür bringen sich die meisten etwa einen Stuhl mit, der unmittelbar neben dem Start/Ziel-Bereich aufgestellt wird, sowie die jeweils passende Verpflegung.

Das Konzept des Backyard Ultras sieht weiterhin vor, dass es akustische Signale gibt, die auf den Start einer neuen Runde hinweisen. Drei Minuten vor Start (also um xx:57:00 Uhr der angebrochenen Stunde) klingelt eine Glocke dreimal, zwei Minuten vorher zweimal, eine Minute vorher einmal. 30 Sekunden vor Start sollen alle Läufer/innen im eigens markierten Start/Ziel-Bereich aufgestellt sein. Wer da nicht drinsteht, kann keine neue Runde mehr beginnen und ist raus.

Die Namensgebung „Backyard Run“ geht auf die US-amerikanischen Ursprungsidee des berühmt-berüchtigten Gary Cantrell zurück, einen Ultralauf gewissermaßen im Hinterhof seines Grundstücks in Tennessee zu veranstalten. Gary Cantrell, besser bekannt als Lazarus Lake, hat somit nach den Barkley Marathons 2011 einen weiteren, ebenso erbarmungslosen Wettbewerb entwickelt.

Seitdem entstehen überall auf der Welt weitere Backyard Ultra-Läufe, die sich mehr oder wenig streng am Konzept des Originals orientieren. In Deutschland gibt es 2019 bisher gleich drei an das Konzept angelehnte Premierenveranstaltungen dieser Art. Im Mai wurden beim Katzen Sprung’s Backyard Ultra in Bremen vom Gewinner 16 Runden absolviert. Anfang Juni gab es beim Halden-Mohikaner der Hartfüßler im Saarland ein leicht abgeändertes Format mit einer Rundenlänge von „nur“ 6,25 km. Durch die etwa 171 Höhenmeter pro Runde kamen beim Sieger dort in 24 Stunden und 150 km allerdings auch über 4000 Höhenmeter dazu.

Die Premiere des „Bienwald Backyard Ultras“ (BBU) in Kandel war zugleich ein „Golden Ticket-Race“ für das US-amerikanische Original im Oktober diesen Jahres. Dort steht der Streckenrekord seit letztem Jahr übrigens bei (für mich) unvorstellbaren 68 Stunden. Wer gerade keinen Taschenrechner zur Hand hat: Das macht eine gelaufene Kilometerleistung von 456 Km in etwas weniger als drei Tagen. Not bad.

 

LGU Läufer

Über den BBU

Der Bienwald Backyard Ultra wurde von Michael Ohler ins Leben gerufen und am verlängerten Wochenende des 20. bis 23. Juni mit sagenhafter Unterstützung von Familie, Freunden und Mitgliedern des TSV Kandel organisiert. Start und Ziel und damit Dreh- und Angelpunkt ist das Bienwaldstadion. Von hier aus starteten die Läufer/innen zwischen 6 und 21 Uhr auf einer flachen Trailstrecke, während es ab 21 Uhr auf eine asphaltierte Nachtrunde ging. Anders als beim US-amerikanischen Original, wo der Veranstalter in seiner unendlichen Großzügigkeit nur Wasser stellt und die Teilnehmer/innen selbst für ihre Verpflegung sorgen mussten, fehlte es in Kandel an nichts.

Die Läufer/innen konnten ihre Stühle unter Pavillon-Zelte stellen und somit Schutz vor Sonne und Regen suchen. Zu essen und trinken gab es reichlich. Ich erinnere mich noch an Kuchen, Nussecken, Chips, Äpfel, Wassermelonen, Honigmelonen, Salzkartoffeln, Pizzaschnecken, Salzbrezeln. Dann je nach Temperatur sogar Wassereis bzw. Kartoffelsuppe. Außerdem neben Wasser noch alkoholfreies Pils und Weizen, Cola, Fanta, Sprite, Apfelschorle und ein isotonisches Getränk, sowie Gels. Ich zähle das deshalb so genau auf, weil für mich das bedenkenlose Schlemmen ein wichtiger Teil des Ultralaufens ist.

Das Bienwaldstadion selbst bietet außerdem ausreichend Duschmöglichkeiten und auf den Außenflächen auf dem Gelände konnten Läufer/innen und Betreuer/innen ihre Zelte aufschlagen.

Kurzum: Die flache, schattenreiche und kurzweilige Strecke, sowie die ausgezeichnete Versorgung der Starter/innen bieten die besten Rahmenbedingungen für einen lange andauernden Lauf. Das Faszinierende an diesem Konzept ist, dass im Vorfeld niemand weiß, wie lang der Lauf tatsächlich dauern wird.

 

Ansporn Matthias

Mein Lauf

Ich reiste am Donnerstagnachmittag mit Arndt Ollig aus dem Rheinland an. Wir stellten unser Zelt auf und versorgten uns auf der Pasta-Party mit Nudeln mit Tomatensauce bzw. Kartoffeln mit Quark. Der Begriff „Party“ ist allerdings nicht zutreffend, da es von allen angemeldeten Läufer/innen nur 18 zum Start schafften und davon einige auch erst am Freitagmorgen anreisten. Vielmehr war es also ein entspanntes Beisammensein. Jonathan, Arndt und ich waren vor allem damit beschäftigt, die Zeit, bis man ins Bett gehen konnte, mit dem Vertreiben von Mücken rumzukriegen.

Es ist spannend, bei einem Lauf dabei zu sein, dass noch fast niemand der Anwesenden gelaufen ist. Lediglich der erfahrene Georg Kunzfeld und die extra für den Lauf aus Schweden angereiste Jenny-Ann Ehrling waren so etwas schon mal gelaufen.

Im Vorfeld habe ich mich ausführlich damit auseinander gesetzt, wie ich so einen Last Man Standing angehen könnte. Welches Tempo wählt man, wenn man gar nicht weiß, wie lange man dieses Tempo durchhalten muss? Ich entschied mich, in meinem 24h-Lauf-Tempo zu starten, also 6:30 min/km. Dann würde am Ende der Runde immer noch Zeit übrig sein, eine kurze Pause zu machen. Wie lange würde ich das durchziehen können?

Der Start erfolgte am Freitagmorgen um 8:00 Uhr. Zunächst würde bis 21 Uhr auf der trailigen Tag-Strecke zu laufen sein und dann...aber soweit waren wir ja noch lange nicht.

Total spannend für mich war das ganze Rennen über die unterschiedlichen Renn-Strategien der Läufer/innen. Ich stelle hier unterschiedliche Modelle vor, die ich von Läufer/innen erfragt oder abgeschaut habe.

5 min laufen, 2 min gehen, 5 min laufen, 2 min gehen usw.

15 min laufen, 10 min gehen, 15 min laufen, 10 min gehen

sehr lange wandern, dafür zwischendurch sehr zügig laufen (unter 6 min/km)

durchlaufen in einer Pace von 7 min/km

alle paar Runden fast nur wandern

alle paar Runden eine „schnelle“ Runde

...

Ich selbst experimentierte in den ersten drei Runden, bis ich einen für mich guten Rhythmus gefunden hatte. Zunächst begann ich die am Anfang zu absolvierende Stadionrunde mit 150 Meter Gehen. Auf der Strecke selbst unterbrach ich meinen Laufrhythmus insgesamt viermal für eine jeweils etwa 200 Meter lange Gehpause. Ich beschloss jede Runde, die wieder mit einer dreiviertel Runde im Bienwaldstadion endete, ebenfalls im Gehschritt. So erreichte ich den Start/Ziel-Bereich jedes Mal nach etwa 47 bis 49 Minuten und es blieb mir genug Zeit für Verpflegung und eine kleine Pause.

War ich am Anfang mit diesen Rundenzeiten noch am Ende der Gruppe unterwegs, reichte diese Zeit ab etwa Stunde 8 für einen Platzierung im Mittelfeld. Diese Platzierung ist natürlich völlig egal, gab mir aber das Gefühl, konstant gelaufen zu sein, während einige doch schon deutlich langsamer wurden. Also alles richtig gemacht?

Ich begann, das Konzept, das ich vorher schlecht einschätzen konnte, für mich passend zu finden. Eigentlich wie bei einem 24h-Lauf, den ich ja schon ganz gut kenne. Mensch läuft `ne Runde und kann sich dann verpflegen. Man lernt mit der Wiederholung die Eigenheiten der Strecke kennen, seine Vorzüge und seine Tücken. Ich mag diese Wiederholung sehr, mir wird nicht langweilig. Im Gegenteil. Die immer gleiche Routine gibt Sicherheit und Struktur. Jedenfalls für eine Zeit lang, aber dazu später mehr.

Es ging am Anfang wirklich gut. Ich konnte die 6,7 km sehr langsam laufen, sogar einige Gehpausen zwischendrin machen. Und trotzdem hatte ich im Ziel noch reichliche 10 Minuten Zeit, mich zu erholen und zu verpflegen. Jonathan, Arndt und ich hatten unsere Stühle exakt drei Meter neben dem Start/Ziel-Bereich aufgestellt, zwei Meter neben der Verpflegung. Sooo muss ein Lauf sein!

Der Tag floss vor sich in. Unsere Schatten wurden erst immer kürzer, die Sonne erreichte ihren Zenit. Schon ab 14 Uhr stellten wir uns die Frage, wann es denn endlich wieder kühler wurde? Dann wurden die Schatten wieder etwas länger.

Zum Start der elften Runde um 19 Uhr eine Überraschung: Dirk Minnebusch war auf einmal da! Nachdem wir im Vorfeld über den Lauf gesprochen hatten, hatte er sich einfach ins Auto gesetzt und war zum Betreuen gekommen. Was für ein wundervoller Mensch!

Noch zwei Runden auf der Tagstrecke, dann noch eine. Die Schatten im Wald waren jetzt wesentlich länger und ich musste jetzt schon bewusst darauf achten, die Füße hoch genug anzuheben, damit ich nicht an den Wurzeln hängenbleibe. Da tut mir vielleicht ein Wechsel gut. Trailschuhe aus, Straßenschuhe an, Tagstrecke vorbei, los geht’s mit der Nachtstrecke. Die begann zunächst mit einem elendigen Pendelstück und folgte dann  der 5km-Runde für die 100km-DM im September. Auf einer Gerade von etwa 1,5km ging es sehr leicht bergauf, dann wieder etwas bergab.

Das Nachtstrecken-Bummeln ging los. Mittlerweile waren wir nur noch 11 Läufer/innen. Um 23 Uhr waren 15 Runden absolviert und die 100 km geknackt. Dies hatten sich zwei weitere Läufer zum Ziel gesetzt, die nun den Lauf beendeten.

Hatte ich am Tag überhaupt gar keine Probleme gehabt – weder physisch noch psychisch – spürte ich jetzt ein Motivationsloch, das von Runde zu Runde größer wurde. Warum mache ich das gleich noch mal? Jonathan und ich hatten im Vorfeld drüber gesprochen. Seine Antwort: „Weil’s lustig ist.“ Hm. Aber gerade macht es mir keinen Spaß. Egal, Krisen kommen, Krisen gehen. Muss man nur durchhalten. Ich beendete auch die 16. Runde in meinem üblichen Modus in 48 oder 49 Minuten. Wir waren jetzt nur noch zu neunt, aber irgendwie begann mich die reine Anwesenheit der anderen Leute um mich herum zu stören. Dirk und Arndt, der mittlerweile auch ausgeschieden war, waren sehr eifrig dabei, hatten es sich zur Aufgabe gemacht, Jonathan und mich optimal zu betreuen. So fragten sie mich ausführlich, was ich denn brauchen würde und wiesen darauf hin, dass ich etwas Festes essen sollte. Aber es nervte mich nur noch. Auf die Frage, was ich denn nun brauchen würde, sagte ich: „Ich brauche vor allem jetzt mal meine Ruhe!“ Dirk und Arndt taten sofort das Richtige, indem sie nicht mit mir diskutierten, sondern mich auch tatsächlich in Ruhe ließen. Ein Wahnsinn, dass ich auf einmal so schlecht gelaunt war.

Zu Beginn der 17. Runde ging ich so langsam, dass ich bald am Ende unseres kleinen Trüppchens war. Hier ging es mir sofort ein bisschen besser. Es ist nicht besonders logisch, aber ich hatte hier jetzt das Gefühl, ich könnte besonders befreit laufen, ohne, dass man sich ständig vor- und zurücküberholt aufgrund der jeweils eigenen Lauftaktik.

Ich habe die große Sehnsucht, nicht aus dem Marathon-Tor rauszulaufen und die Runde zu starten, sondern einfach auf der Bahn zu bleiben. Dann komme ich wieder im Start/Ziel-Bereich an und höre auf. Es kann so einfach sein, einfach auf der Bahn bleiben. Es fällt mir unheimlich schwer, die Bahn zu verlassen. Aber als ich es dann geschafft habe, ist es ein bisschen, als würde mir eine Last abgenommen. Dann muss ich halt noch diese Runde laufen. Mittlerweile bin ich allein.

Am Ende zu laufen heißt aber auch, der Langsamste zu sein und so beendete ich die Runde in gerade mal 55 oder 56 Minuten. Nicht viel Zeit für Verpflegung. Irgendwie hatte ich gar keine Lust auf das Stadion. Wortlos übergab ich Arndt und Dirk meine Softflask zum Auffüllen und bekam dafür von ihnen ebenso wortlos etwas zu essen und zu trinken in die Hand gedrückt. Doch anstatt mich hinzusetzen, tigerte ich im Start/Ziel-Bereich hin und her. Hier gefällt es mir nicht bei den ganzen Menschen. Ich will wieder raus auf die Strecke, wo ich meine Ruhe habe.

Die 18. Runde beginnt. Ich starte wieder ganz bewusst so langsam, dass alle anderen Läufer/innen vor mir schon bald weit weg sind. 18 Runden sind eine schöne Zahl. Es ist die Hälfte von dem, was ich eigentlich zu laufen gehofft habe. Ich höre nach dieser Runde auf! Ich habe einfach kein Bock mehr. Kein Bock mehr auf diese ätzende „Steigung“, auf die Dunkelheit der Nacht. Ich kann die Einsamkeit zwar noch genießen, aber wozu eigentlich? Wo soll das alles enden? Ich höre auf.

Meine Garmin-Uhr liegt zum Aufladen im Stadion, ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit ich noch für die Runde habe. Als ich ins Stadion hineinjogge, wird mir klar, dass ich „zu schnell“ bin, als dass ich aufhören könnte. Wenn auch nur knapp. Nach etwa 58:30 Minuten beende ich die 18. Runde. Einige Läufer blicken auf und sehen mich gespannt an. Ich kann in ihren Augen lesen: „Er ist in einem schlechten Zustand und gerade so eben reingekommen. Wird er weitermachen?“ Ich komme mir vor wie ein Boxer, der gerade einen Schlag auf die Schläfe abgekommen hat, taumelt und jetzt fragt sich das Publikum: Fällt er oder fällt er nicht?

Ich will fallen. Aber da stehen dann auch schon Dirk und Arndt, nehmen mir meine Flasche ab, drücken mir einen Becher mit etwas Trinkbarem in die Hand und halten mir eine Nussecke vor den Mund, von der ich reflexartig abbeiße. Mist, jetzt kann ich nicht aufhören, die kümmern sich ja richtig um mich!

Es bleibt keine Zeit mehr, sich hinzusetzen. Ein paar Sekunden später geht es in die 19. Runde. Mittlerweile ist es 3:00 Uhr morgens.

Okay, ich brauche einen neuen Plan. Meinen Beinen geht es immer noch ausgesprochen gut, keine Beschwerden. Aber in meinem Kopf ist alles Matsche.

Dann höre ich halt nach dieser Runde auf. Wie soll das gehen, ohne Dirk und Arndt zu enttäuschen? Ich überlege, gerade so langsam zu laufen, dass ich auf der Stadionrunde kurz vor dem Ziel die eine Stunde überschreite. Dann muss ich nicht mehr loslaufen und habe doch „alles“ gegeben.

Also ein letztes Mal dieses verdammte Pendelstück, ein letztes Mal schlappe ich die unendliche Gerade entlang. Bei jedem Schritt dröhnt es in meinem Kopf: Das ist meine letzte Runde. Das ist meine letzte Runde. Das ist meine letzte Runde.

Immer noch laufe ich ohne Uhr, es wird also spannend, ob ich das von meinem Tempo-Gefühl her hinbekomme.

Bekomme ich nicht hin.

Wie in der Runde zuvor bin ich „zu früh“ im Stadion, stehen bleiben gilt nicht. Also schlurfe ich in die Box, wieder nach etwa 58:30 min. Flasche weg, Mund auf, Essen rein, Becher in die rechte Hand, Flasche wieder in die linke Hand und tschüss. Hey, das gilt nicht! Dirk und Arndt müssen sich abgesprochen haben. Ihre sekundenschnelle Versorgung funktioniert so reibungslos, als hätten sie das schon tausend Mal zuvor gemacht. Wenn die das nicht so gut hinbekommen würden, dann wäre ich schon längst raus. Oder wenn ich selbst gar keine Betreuer hätte.

Auf geht’s in die 20. Runde. 20 ist ja auch eine schöne Zahl zum Aufhören. Ich mag runde Zahlen sowieso viel lieber.

Die Schwedin als einzige Läuferin ist noch im Rennen, aber gerade hängt sie durch. Erst zehn Sekunden vor dem Start trottet sie irgendwie in die Box und dann los. Sie geht noch langsamer als ich. Und ich dachte schon, mir geht es mies. Als ich das Stadion verlasse, sehe ich, wie sie auf der Bahn bleibend zurück zum Start/Ziel-Bereich geht. Man ey, das ist hart. Schade, dass sie raus ist. Mit mir sind es jetzt nur noch sieben Läufer. Mit einem Mal wird mir klar, wie schnell es gehen kann. Eben denkt man noch, dass alles ewig so weitergeht und schon ist eine starke Läuferin einfach raus.

Diesmal will ich es schaffen, aufzuhören. Die ersten 1,5 km lege ich ausschließlich wandernd zurück. Das wäre doch gelacht, wenn ich es auch ohne Uhr nicht schaffen würde, hier ein ordentliches DNF abzulegen! Vorsichtshalber laufe ich nur noch sehr langsam und ganz wenig. Ob ich tatsächlich nicht mehr laufen kann oder es einfach nur nicht will – was spielt das denn noch für eine Rolle?

Wann wird es eigentlich wieder hell? Auf der zweiten Hälfte der Nachtrunde laufe (naja: gehe...) ich gen Osten. Dort wird schon wieder schwarz zu blau. Das heißt, in der nächsten Runde dämmert es schon wieder. Und ist nicht alles besser, wenn der Tag anbricht? Egal, ich höre sowieso auf.

Dieses Mal muss es klappen. Ich bin noch außerhalb des Stadions, da höre ich die erste Glocke. Noch drei Minuten bis zum Start. Völlige Erleichterung durchströmt mich. Ich werde es nicht schaffen. Ich darf aufhören. Bevor ich ins Stadion einlaufe, gehe ich noch einmal ein paar Meter, um ganz sicher zu gehen. Dann ertönt schon die zweite Glocke. Noch zwei Minuten. Für mich noch etwas über 300 Meter. Eigentlich easy. Aber ich will ja nicht. Ich setze also zu einem schnelleren Laufschritt an. Die letzte Glocke ertönt, noch eine Minute. Ich erhöhe mein Tempo. Auf der Tribünenseite im Start/Ziel-Bereich wird es laut. Mich erreichen Anfeuerungsrufe. Noch 50 Meter, noch 40, noch 30. Ich bin fast da. Dann läutet sie erneut, diese erbarmungslose Kuhglocke. Die übrigen 6 Läufer zuckeln los. Sie kommen mir entgegen. Einige schütteln mir die Hand, gut gekämpft. Mit nur wenigen Sekunden nach 4:00 Uhr beende ich meine 20. Runde. Allerdings außerhalb des Zeitlimits, daher werden nur 19 Runden gewertet.

Egal. Ich bin erleichtert. Ich bin sofort wieder freundlich, keine Spur von Übellaunigkeit mehr. Michael schüttelt mir die Hände und überreicht mir eine Medaille. Na super. Ich glaube, er hat Mitleid. Und ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich sie alle so getäuscht habe. Das muss aber auch sofort raus und ich erzähle den Umstehenden von meiner Kopfquälerei, von meiner nicht enden wollenden Krise und wie ich mich davor gedrückt habe, eine weitere Runde durchstehen zu müssen.

Aber wer hat hier eigentlich wen getäuscht? Am meisten wahrscheinlich ich mich selbst. Ich habe in den letzten Runden immer mehr gemerkt, wie mir der Lauf den Zahn zieht. Kein Ende in Sicht. Die anderen Läufer noch so frisch. Was gilt es zu erreichen? 24 Stunden? 30 Stunden? 36 Stunden? Den Sieg? Alles viel zu weit weg. Dazu diese öde Strecke und die Einsamkeit der Nacht. Ich hatte schlechte Laune und wollte einfach nur, dass es endet.

Gleichzeitig wollte ich ja nicht meine Betreuer enttäuschen und nicht mehr weiterlaufen. Das saure Ende war nun dieses DNF nach Zeitüberschreitung. Hatte ich noch nie. Dabei hätte ich diese Runde locker packen können, meinem Körper ging es sehr gut. Und die nächste hätte ich bestimmt auch geschafft und dann ist es schon wieder hell. Hätte, hätte...

Ich gehe duschen und lege mich für zwei Stunden schlafen. Will unbedingt beim 100Meilen-Finish nach 24 Stunden dabei sein. Jonathan hatte die ersten 24 Stunden scherzhaft als „Prolog“ bezeichnet und tatsächlich hab ich allen gesagt, dass das Rennen nach 24 Stunden erst so richtig losgeht. Jetzt bin ich schon raus und nur drei Läufer starten in die 25. Runde. Klaus Mantel, der dritte LG Ultraläufer, und zwei andere Läufer hören nach 100 Meilen auf. Jetzt hat Jonathan ein mentales Tief. Er meint, er sieht keinen Zweck darin, noch ein paar Stunden weiterzulaufen, wenn er die 36 Stunden doch nicht erreichen wird und die anderen so stark seien. Als er nach 26 Stunden aufhört, läuft Harald Menzel (neben Andreas Löffler der dritte noch verbliebene Läufer) einen Rundenrekord mit etwas über 28 Minuten. Das ist nur etwas schneller als 4 min/km. Nach über 100 Meilen. Unfassbar. Irrsinnig.

 Jonathan

Der Rest ist dann schnell erzählt. Andreas sagt, er würde noch so lange laufen, bis es einen Rekord bei den Backyard-Qualifikationsrennen gäbe. Der liegt bei 40 oder 41 Stunden, genau weiß ich es nicht. Das hieße aber auch, dass es noch bis tief in die zweite Nacht gehen würde. Und jetzt war es erst Samstagvormittag. Das Verrückte ist, dass ich nicht eine Sekunde daran zweifelte, dass das Rennen nur mit Harald und Andreas tatsächlich so lange gehen würde. Sie waren unfassbar stark, wenn auch auf unterschiedliche Weise.

Also sind wir gegen 13 Uhr aufgebrochen, zurück ins Rheinland. Am Sonntagmorgen gab es dann einen Sieger: Harald stoppte nach 45 Runden und 300 Kilometern, Andreas lief dann noch eine weitere Runde und gewann nach 308,476 km und 46 Stunden. Ja nee, is klar. Wahn-Sinn.

 

Abspann

Jonathan und ich sagten direkt nach dem Rennen, dass wir so etwas nie wieder machen würden. Aber jetzt sind ein paar Tage vergangen und es fuchst mich. Ich habe nach über 130 Kilometern keinen Muskelkater, gar nichts. Das beweist nicht meine Fitness, wohl aber, dass mir das Konzept anscheinend gut passt.

Und – verdammt – ich wusste doch schon vorher, was auf mich zukommt. Habe ich zu früh aufgegeben? Wie justiert man seine Gedanken, damit man noch weiterlaufen kann, auch wenn es anscheinend weder Spaß noch Sinn macht? Und soll man das überhaupt? Ist es das, was in den ganzen Hochglanz-Videos bei Youtube immer als „Grenzen überwinden“ bezeichnet wird? Bei diesem Lauf waren meine Grenzen eindeutig im Kopf. Und den muss ich doch austricksen können. Nach dem „Warum?“ während eines Laufs zu fragen ist in etwa so sinnvoll, wie während eines Fallschirmsprungs zu überlegen, ob man nicht vielleicht doch Höhenangst hat.

Außerdem: Michael Ohler hat hier einen fantastischen Lauf organisiert. Eine tolle Tagstrecke, hervorragende Ausrichtungsmöglichkeit. Und ein ganz, ganz tolles, liebes Helfer/innen-Team. Danke vor allem an die Jungs, die mitten in der kühlen Nacht den Weg gewiesen haben und dabei immer aufmunternde Worte übrig hatten.

Falls jemand von euch überlegt, bei einem solchen Lauf zu starten, kann ich euch den Bienwald Backyard Ultra nur wärmstens ans Herz legen.

Und vielleicht bin ich ja dann doch noch einmal dabei.

Text: Matthias Kröling, Bilder: Michael Ohler, Marco Knoll 27.06.2019

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