Breckerfelder Flower Power Ultra Jubiläumslauf 100 Meilen

Bericht und Bilder von Matthias Kröling

„Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.“
Albert Camus

Warum laufen wir?
Worin besteht der Sinn?
Warum – um alles in der Welt! – tue ich mir das hier an?

Am Sonntag um 2:50 Uhr, noch Nacht und noch nicht Morgen, kommen wir zum neunten Mal in der höchstfrequentierten Garage von ganz Breckerfeld an. Ein zehntes und letztes Mal werden wir sie noch einmal verlassen, fünf Abschluss-Kilometer absolvieren und dann ist es vorbei.
Gleich ist es geschafft!

Der Name ist Programm.

Begonnen hat es knapp 27 Stunden zuvor.
13 Läufer und 3 Läuferinnen stehen an der Startlinie am Breckerfelder Sportplatz.
Ich bin sehr froh, ein Teil von ihnen zu sein, denn meine letztes halbes Laufjahr war sehr durchwachsen. Erst Bänderriss und DNF beim JUNUT, zwei Monate später Finish beim 100 Meilen-Lauf in Groningen (De 100 mijl van Sint Annen). Kurz darauf, sechs Tage vor meinem geplanten Start beim Deutschlandlauf, bekam ich die Diagnose Tractus-Iliotibialis-Syndrom – Läuferknie. Wieder wochenlange Pause, kaum trainiert. Und nun der Flower Power Ultra.

Es ist schön, die Hälfte der Läufer:innen in diesem Feld persönlich zu kennen. Angereist bin ich mit dem Stotzheimer Jung‘ Philip, der erst zwei Wochen zuvor sehr erfolgreich an einem 24h-Lauf teilgenommen hat. Ein sehr starkes Jahr von Philip, der in 2024 so richtig seinen Abdruck in der Ultra-Szene hinterlassen hat.
Wir haben uns vorgenommen, so lange es geht zusammenzulaufen. Persönlich habe ich mir zwei Ziele gesetzt: Keine Kniebeschwerden und dann ein Finish. Mögliche Zielzeiten gehen mir natürlich auch immer wieder durch den Kopf, aber keine einzige davon werde ich nachher einhalten können.

Die Linie, die den Start zum Flower Power Ultra markiert.

Für die 100 Meilen gilt es, 10 Runden zu durchlaufen. Der Prolog hat 5 km, dann kommen die zwei längsten Schleifen mit 31 und 30 km, anschließend dann wie ein Intervall 10 – 15 – 20 – 20 – 15 – 10 – 5 km-Runden. Abgesehen von der ersten Runde, wo wir anwohnerverträglich am Sportplatz außerhalb des Wohngebiets starten, beginnt und endet jede der Runden in der Garage von Elke und Stefan, die diesen Lauf mit viel Herzblut organisiert haben. Ihr erdachtes Konzept ist so simpel wie genial, jede:r Läufer:in bringt einen ordentlichen Teil Verpflegung für das „Buffet“ mit. Ich habe noch bei keiner Laufveranstaltung eine derart umfangreiche und reichhaltige Verpflegung gesehen wie hier beim BFPU.

Nach dem Warm-up mit der ersten 5km-Runde geht es direkt auf die erste 30er-Runde.
Da Breckerfeld auf einer Anhöhe liegt, geht es zu Beginn jeder Runde zunächst mal für ein paar Kilometer bergab. Dass wir irgendwann gegen Ende der Runde zwangsläufig dann auch wieder bergauf laufen müssen, lässt sich zu Beginn noch gut verdrängen.
Das Laufen fällt jetzt noch leicht und macht Spaß. Ich tue mich sehr schwer damit, eine angemessene Pace zu finden, da ich abgesehen von zwei Ausnahmen, seit Monaten keinen Lauf mit mehr als 30 km gemacht habe. Wie geht das noch mal mit diesem Ultraschlappschritt?
Glücklicherweise geht es nach den ersten Downhill-Passagen zuverlässig wieder bergan und dort wird sowieso gegangen. Hier merke ich schon relativ schnell, dass mir das Training und die Kraft fehlt, denn ich verliere sofort den Kontakt zu meinen Mitläufern und keuche dafür recht ordentlich. Na das kann ja noch heiter werden!

Auf der Hälfte dieser Runde gibt es einen kleinen VP zur Selbstverpflegung, der mit einigen Snacks und ein paar Getränken bestückt ist. Auch wenn dieser VP keine große Sache ist, hat er für mich schon eine symbolische Bedeutung, ist etwas, auf das man hinarbeiten kann.
Nach diesem kurzen Zwischenstopp hat sich dann irgendwann auch das Feld sortiert und ich laufe mit Philip an fünfter Stelle im Feld weiter. Knapp vor uns sind Tim und Björn, davor Bent und an der Spitze der Einzige im Läuferfeld, der gar nicht läuft. Es ist Jannik, der die gesamte Strecke in einem aberwitzigen Tempo von 8-9 km/h marschiert. Während wir im Downhill ein paar Meter auf ihn gut machen können, zieht er im Uphill gnadenlos davon mit einer Leichtigkeit und Geschmeidigkeit, die ich nur bewundern kann. Wie macht man so etwas?

Ein kleiner VP Mitte der 30km Runde. Der Morgen graut schon.

Philip und ich benötigen für die 31km-Runde etwa 4 Stunden und hauen uns dann am Garagen-VP das erste Mal so richtig die Bäuche voll, bevor es ohne allzu viel Nachdenken dann auf die nächste 30km-Runde geht.
Wir schlappen weiter durch die weiten Landschaften des Ennepetal-Ruhr-Kreises. Moment mal, das soll noch zum Ruhrgebiet gehören? Aaaah ja. Sauerland oder Bergisches Land vielleicht, aber Ruhrgebiet? Darauf wäre ich nicht gekommen. Andererseits konnte ich bei meinen Teilnahmen an der TorTour de Ruhr die urbanen Zentren häufig auch nur erahnen, während um uns herum alles grün war.
Na, wie auch immer, schön hier. Und noch schöner wird es, wenn gleich der Morgen graut.
In Gesprächen über Leben und Laufen vertieft stoßen wir dann zu Björn und Tim und werden den Rest der Runde zu viert unterwegs sein.

Nichts ist schöner als das erste Licht des Morgens.

Die Stimmung ist gut und mit Blick auf den bevorstehenden Tag beinahe gelöst. Die Sprüche sitzen locker und es zeigt sich, dass jeder von uns vieren gut austeilen und einstecken kann. Leider hat Philip schon seit einigen Stunden körperliche Probleme. Zu dieser Zeit des Tages sinken die Temperaturen auch Richtung Gefrierpunkt und das bereitet ihm als passionierten Hitzeläufer noch einmal zusätzliche Schwierigkeiten.
Am VP auf der Hälfe der Runde schickt er uns drei dann vor, er würde uns später wieder einholen.
Der Rest dieser Runde ist für mich die schönste Zeit des gesamten Laufs. Wir können den Sonnenaufgang auf einer Anhöhe erleben, während unter uns im Tal die Nebelschwaden wie Wolken liegen. In diesem Jahr feiert die Kunstwelt den 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich und sein „Wanderer über dem Nebelmeer“ hätte auch genau hier gemalt werden können.
Alle machen Fotos und Tim ruft wiederholt in großer Begeisterung: „Genau dafür machen wir das doch alles hier!“ Recht hat er.

Läufer über dem Nebenmeer.

Zurück in Breckerfeld haben wir jetzt immerhin schon knapp 66 km geschafft und es sind keine 100 km mehr! Macht das Mut? Geht so. Was aber anspornt, ist die Aussicht auf eine popelige 10km-Runde, die vor uns liegt. Tim und Björn stiefeln schon mal los, Philip und ich brauchen noch ein bisschen. Wenige Minuten später starten aber auch wir.
Ich sehe, dass es meinem Kumpel wirklich nicht gut geht, während ich durch den Tag neue Energie geschöpft habe. Philip meint, dass es ja noch zu früh sei, über einen Abbruch nachzudenken, aber es fiele ihm gerade wirklich alles sehr schwer. Das Tief, welches ihn normalerweise so bei Km 30 eines Rennens überfällt, kann und kann er einfach nicht abschütteln. Dazu die Kälte, die sehr kraftraubend ist. Mir fällt nichts Schlaues dazu ein und so schlurfen wir erstmal ein paar hundert Meter langsam weiter. Als ich Philip frage, ob wir nicht ein paar Meter joggen sollen, um Wärme in unsere Körper zu kriegen, geht auf einmal alles ganz schnell. Philip legt mir beide Hände auf die Schultern und schaut mir tief in die Augen: „Matthi, ich kann gerade nicht laufen. Aber ich merke, dass du laufen kannst und dass ich dich aufhalte. Lauf los und hole dir mit diesem Lauf deinen Mut zurück! Mach dir um mich keine Sorgen, ich werde nicht aufhören. Ich mache weiter!“
Ich muss kräftig schlucken und Tränen schießen mir in die Augen. Sagen kann ich gerade nichts. Ich schließe ihn in die Arme, wir drücken uns und dann trennen wir uns. Einerseits habe ich sofort ein schlechtes Gewissen, Philip „zurückzulassen“ und befürchte, dass ihn diese Trennung noch weiter ins Tief stürzen könnte. Andererseits scheint bei ihm Laufen gerade tatsächlich unmöglich und ich kann mir einfach nicht vorstellen, die verbleibenden knapp 98km nur noch zu wandern.

Spaß bei der Arbeit haben Björn, Tim und Philip (v.l.n.r).

Also laufe ich allein weiter. Das nächste Zwischenziel kann nur sein, Tim und Björn einzuholen. Es gelingt mir knapp 2 Km vor Ende dieser Runde. Kurz überlege ich, ob ich bei ihnen bleibe, aber da das Tempo gerade nicht passt und ich mich in meinem wohlfühle, wechseln wir nur kurz ein paar Worte miteinander und ich sage ihnen, dass ich schon mal zum VP vorlaufe.
Dort angekommen nehme ich mir etwas Zeit zum Klamottenwechsel. Überraschenderweise trudeln nach mir nicht zuerst Tim und Björn ein, sondern Michael, der die beiden auch noch überholt haben muss. Kurz überlege ich, ob ich mich ihm anschließe für die nächste Runde, aber er ist schneller wieder reisefertig und ich hab’s nicht eilig gerade. Dann kommen auch Tim und Björn wieder und ich schließe mich ihnen an für die anstehende 15km-Runde. Besonders erfreulich ist, dass wir direkt nach unserem Aufbruch auf die neue Runde Philip uns entgegenlaufen sehen. Er scheint wirklich platt zu sein, aber interessanterweise ist er gar nicht mal so langsam. Dieses kurze Treffen gibt mir einen moralischen Booster.
Die nun folgende Runde hat es ganz schön in sich, ist sie doch gespickt mit vielen Höhenmetern und die Oktobersonne schenkt uns noch einmal ausgiebig Wärme. Dadurch wird das Ganze zu einer schweißtreibenden Angelegenheit, die uns dann auch deutlich über 2 Stunden kostet. Eine Runde zum Abhaken.

Ein Teil des VP der Garagen-Genuss-Welt – da bleibt kein Wunsch mehr offen.

Nun folgen zwei 20km-Runden, von denen wir möglichst viele Meter im Tageslicht zurücklegen wollen. Da die Runden von Elke und Stefan so geplant sind, dass das letzte Stück der vergangenen Runde auch immer den Auftakt der neuen Runde bildet, trifft man hin und wieder Mitläufer:innen, di einem entgegenkommen. Auch zu Beginn der ersten 20km-Runde ist die Freude enorm groß, dass wir schon wieder Philip begegnen, der (die Pausen mit eingerechnet) nur etwa 35-40 Minuten hinter uns sein müsste. Boah, ich freue mich voll! Philip ist gezeichnet, aber er beißt sich richtig stark durch, er will einfach nicht aufgeben.
Auf dieser Runde gibt es wieder einen kleinen Zwischen-VP, an dem wir bei KM 103 Rast machen. Tim und Björn setzen sich zum Dösen ein paar Minuten auf die Bank, während ich versuche, etwas zu essen.
Wir sind nun nicht mehr wirklich schnell und schaffen knapp 6 km/h brutto. Ab und zu überlege ich, ein paar Schritte schneller zu laufen, aber was genau würde mir das bringen? Dann wäre ich vielleicht ein paar Minuten vor den Beiden, doch wesentlich schneller laufen kann ich auch nicht. Ein Finish unter 24h haben wir schon lange begraben, ehrlich gesagt war es schon nach 80 km keine realistische Option, da wir allein für diese erste Hälfte 11,5 h gebraucht haben. Und einen negativen Split bei einem Ultratrail kriegen dann doch wohl nur ganz besondere Topathleten hin, zu denen wir eindeutig nicht zählen.
Wir zuckeln weiter und kommen gegen 17 Uhr wieder an den VP. Für die 20 km haben wir etwa 3:15 h gebraucht. Nun kommt langsam aber sicher wieder der Abend. Wir werden auf der nächsten Runde unsere Stirnlampen brauchen.

Powernap bei Km 103.

Noch 50 km. Das ist so verdammt weit! Keinen Gedanken darf ich daran festmachen, es ist einfach zu weit weg. Nach dieser vor uns liegenden 20km-Runde wären es nur noch 30 km und die Runden würden dann auch immer kürzer. Wie heißt es doch in einem Text der Band Querbeat? „Hätte, wenn un aber es alles nur Jelaber.“
Am besten nicht so viel denken und mehr laufen. Jeden Schritt bewusst setzen und sich bewusst machen, dass er einen näher ans Ziel bringt.
Also latschen wir wieder los, mal wieder bergab. Das geht schon etwas leichter.
Schon wieder begegnen wir Philip!! Ich bin ganz beseelt! Was für ein krasser Typ bist du denn, dass du dich einfach nicht aufgibst und weiter durchziehst! Ich bin so beeindruckt, dass ich kurz stehen bleibe und mit ihm quatsche, während Tim und Björn zu zweit weiterlaufen. Kurz kommt in mir der Gedanke hoch, auf Philip zu warten und mit ihm den Lauf fortzusetzen. Er sagt sogar, dass ich weiterlaufen solle, er würde uns schon noch einholen. In meinem Zustand kann ich nicht sagen, ob das ironisch oder kämpferisch von ihm gemeint ist, vielleicht sogar beides zugleich.
Warten möchte ich nicht auf ihn, dafür ist mir gerade zu kalt. Ich will in Bewegung bleiben und lasse mich gern von ihm einholen, falls es so sein sollte.

All you need is a trail like this.

Diese Runde läuft nun etwas eigentümlich ab. Ich halte nach vorn zu Tim und Björn beinahe durchgehend einen Abstand von mindestens 100 Metern ein, nur ein paar Mal begegnen wir uns, etwa am VP auf der Hälfte des Weges. Es wird nun wieder Abend und ich habe Lust, allein zu laufen und die Abendstimmung zu genießen. Es folgen ein paar tolle, einsame Trails auf unwegsamem Gelände. Allein mitten im Nirgendwo. Manchmal schaue ich mich nach hinten um in der Hoffnung, dass Philip doch schon aufgeschlossen haben könnte, auch wenn mir eigentlich klar ist, dass das nicht realistisch ist. Dafür hätte ich schon stehen bleiben müssen, mit 5-6 km/h durch die Pampa zu latschen lässt den Vorsprung konstant bleiben.
Kurz vor Ende der Runde schließe ich wieder zu Tim und Björn auf und wir laufen zum siebten Mal in Breckerfeld ein, es ist schon nach 20:30 Uhr.

Ich brauche nun länger mit dem Umziehen und muss diverse Stellen nachschmieren. Außerdem in Ruhe etwas Tee trinken und was essen. Irgendwie dauert alles länger. Tim und Björn wollen schon wieder los und fragen nach mir. Ich schicke die Beiden schon mal weiter, denn ich weiß, dass ich wieder auf sie auflaufen werde, da mein Grundtempo immer noch ganz okay ist. Leider kommt mir Philip auf den knapp 2 km Begegnungsabschnitt zu Beginn dieser Runde nicht entgegen, er ist also doch wohl noch etwas hinter uns. Schade, ich hatte ja mehr als einmal gehofft, dass er es schaffen würde, uns einzuholen.
Tim und Björn sind dann doch ordentlich voraus und ich laufe so zügig es mir möglich ist, um sie wieder einzuholen. Noch diese blöde 15 km-Runde und dann müssten wir es doch wirklich in Reichweite haben. Noch einmal 15 km leiden und dann muss doch irgendwann mal die Vorfreude auf das bevorstehende Finish übernehmen und den Schmerz ablösen.
Einige Minuten später laufen wir wieder zu dritt. Um uns wachzuhalten versuchen wir uns in belanglosen Gesprächen. Björn ist mit Abstand der Fitteste von uns Dreien und initiiert immer wieder einen Smalltalk. Ich nehme bei mir selbst wahr, wie anstrengend es für mich in diesem Moment ist – fast 40 Stunden wach und fast 24 Stunden auf den Beinen – einen stabilen Satz mit Haupt- und Nebensatz zu bilden, der mehr zu bieten hat als einen Telegrammstil.
Wir unterhalten uns auch über Motivation und ich teile den Beiden mit, dass meine im Keller ist. Überhaupt dieses 100 Meilen-Laufen immer, das führt doch zu nichts. 50 km laufen, das macht sogar noch Spaß und man hat hinterher trotzdem das Gefühl, etwas getan zu haben. Ja, meinetwegen sogar 100 km laufen, dann ist es etwas zäher und man kommt sogar in den Bereich, Schmerzen überwinden zu müssen. Aber 100 Meilen? Wer macht das? Warum machen Leute das? Warum mache ICH das? Ich will nach Hause, in meine beheizte Wohnung, auf mein großes Sofa, vor allem will ich zu meiner Frau. Anna sagt sowieso regelmäßig (halb im Scherz), dass es ihr lieber wäre, wenn ich Briefmarken sammeln würde anstatt Läufe. Weshalb bin ich dann noch hier?
Björn zitiert Albert Camus, der in seinem Essay über Sisyphos schrieb, wir müssten uns diesen Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. So, etwas Existenzialismus zur späten Abendstunde. Nun habe ich was zu denken.
Diese Runde zieht sich wie Kaugummi und 100 Meter kommen uns so vor wie 500. Dann haben wir den Wengeberg, die höchste Erhebung im Ruhrgebiet, überschritten und trudeln wieder in Breckerfeld ein.

Hier auf dem Foto ist irgendwo ein Trail versteckt.

Tim und ich sind völlig am Ende und brauchen dringend eine Pause. Wir fragen Elke, ob wir uns in den Hausflur legen dürfen. Sie macht ein verwundertes Gesicht und meint, dass das ja nicht sehr bequem sei. Aber wir wissen, dass es dort beheizt ist und viel mehr brauchen wir nicht für einen kleinen Powernap. Schade, dass es kein Foto davon gibt, wie Tim und ich völlig fix und foxi auf den Steinfliesen in diesem Hausflur liegen. Ein Sinnbild der Verausgabung und Erschöpfung.
Das Aufstehen nach dieser Viertelstunde Powernap war entsprechend schwierig. Allein der Gedanke, nun wieder raus in die Kälte zu müssen… ich gehe zu meinem Dropbag und ziehe mir sofort meine Daunenjacke über, die ich die nächsten Stunden auch nun nicht mehr ausziehen werde. Dann noch etwas essen und trinken und wir zwingen uns wieder hinaus in die Nacht. Wir verlassen die Garage ca. 00:40 Uhr. Elke gibt uns noch mit auf den Weg, dass wir bis 3 Uhr die vor uns liegenden 10 km geschafft haben sollten. Jau, das finde ich aber auch.
Kaum haben wir einen Kilometer frierend und schlurfend hinter uns gebracht, erscheint vor uns eine sich auf und ab bewegende Stirnlampe. Aha, ein Läufer! Das kann doch nur … ja, es ist Philip! Was ein Kerl!!! Völlig am Ende wirkt er, nur noch über den Willen geradeaus laufend. Tim, Björn und ich sind total beeindruckt, beglückwünschen ihn und feuern ihn dann an, bevor wir schließlich weitergehen. Man, was freut mich das! Wenn Philip es soweit gepackt hat, dann wird er auch noch die restlichen Kilometer durchziehen… und das, obwohl er eigentlich schon seit 20 Stunden hinüber ist. Unglaublich!

Das Abendrot kündigt die nahende Dunkelheit an. Die zweite Nacht beginnt bald.

Wir schlurfen weiter und ab und zu sind ein paar Meter joggen drin. Erstaunlicherweise rutscht uns sogar noch ein Kilometer unter 9 min dabei raus – allerdings auch mit fast 60 Metern Gefälle
Ansonsten läuft gar nichts mehr und das Tempo liegt bei etwa 13 min/km, also gerade etwas über 4 km/h. Diese Runde führt um die Glörtalsperre und hier ist es nachts um 2 Uhr arschkalt. Ich bin froh über meine Daunenjacke.
Und dann wird es seltsam. Auf einmal kippt die Stimmung und waren wir gerade noch völlig hinüber, blödeln wir jetzt, was das Zeug hält. Ich bin auf einmal hellwach, als Tim davon zu reden beginnt, dass er sich vielleicht die letzte Runde sparen will, weil er nach seiner Uhr am Ende dieser Runde ja schon 100 Meilen erreicht hätte. Ich bin völlig entgeistert und teile ihm das auch mit. Es entspannt sich eine rege, wohl nicht ganz ernst gemeinte Diskussion über den Sinn und Unsinn von DNFs – bis heute bin ich mir nicht sicher, wie ernst bzw. ironisch Tims Position in diesem Gespräch war. Dafür war es einfach zu spät, mein Sinn für Ironie war schon lange nicht mehr aktiv.
Jedenfalls beginnt sich eine gelöste Stimmung breit zu machen, denn es sind keine 10 km mehr bis zum Finish und wir wissen, dass ein Ende in Sicht ist.

Um 2:50 Uhr – und damit deutlich vor 3 Uhr, wie von Elke gefordert – kommen wir also wieder an der Garage an. Dort sitzt Michael, der schon fertig ist und dem wir artig und beeindruckt gratulieren. Jetzt will ich mich hier aber nicht noch Ewigkeiten aufhalten. Noch einmal etwas trinken und dann los. Die Jungs raten mir, meinen Rucksack für die letzte Runde abzulegen, denn 5 km kann man tatsächlich auch ohne schaffen. Ich überlege kurz, entscheide mich dann aber dagegen.
Nun noch einmal los, fünf Abschlusskilometer.

Nicht mehr weit, noch 15km.

Trotz des Gefälles zu Beginn der Runde kommen wir kaum über 5 km/h hinaus. Dann sind wir unten im Tal und ich beginne zu fluchen. Jetzt habe ich aber endgültig die Schnauze voll. Dieses ewige Rauf und Runter! Ich habe eine Blase unter dem linken Fußballen, die sich über jeden Meter geschotterten Weges beschwert. Außerdem ist mir kalt und ich mag einfach nicht mehr. Im Jammern kann ich ein ganz Großer sein!
Aber wir müssen ja auch nicht mehr lange. Noch ein paar Meter Wald, dann ein letztes Mal in die Siedlung einbiegen und auf die Garage zu laufen. Na okay, wir sind nicht gelaufen, sondern gegangen.
Ich bedanke mich bei Tim und Björn für die Begleitung, die auf jeden Fall alles deutlich erträglicher gemacht haben. Und dann sind wir durch, haben die knapp 164 km um 3:56 Uhr Sonntagfrüh beendet. Huiuiui, was für ein Brett. Laut meiner Garmin waren es dann doch über 4200 Höhenmeter.
Wir lassen uns von Elke eine tolle, selbstgebastelte Medaille aus gestrickten Blumen überreichen und langen noch mal ordentlich am Buffet zu. Dann hole ich zusammen mit Björn die Autos vom Sportplatz hoch in die Wohnsiedlung und beginne, alles einzupacken.

Genau eine Stunde nach unserem Zieleinlauf ist es soweit – Philip kommt an. Seine Erscheinung erinnert mich an das erste Finish von John Kelly beim Barkley 2017. Da kommt ein Typ, völlig am Ende seiner Kräfte, der sich irgendwelche Sachen um den Kopf gebunden hat, um nicht zu unterkühlen. Der nach dem Finish keinen Meter mehr gehen kann.
Mein Lauf war anstrengend und hart und ich hatte viele Stunden lang keine Lust. Aber das ist nichts im Vergleich zu Philips Lauf. Ich habe selten eine Person dabei beobachtet, wie sie sich so sehr geschunden und gequält hat, um einen Lauf zu beenden. Nichts als Hochachtung für diesen Mann! Ich bin froh, dass ich dabei sein konnte, um das zu erleben.

Mein persönlicher Held des Tages mit geschmackvoller Kopfbedeckung. Philip hat es ins Ziel geschafft.

Vielen Dank an dieser Stelle an erster Stelle für Elke und Stefan für diesen tollen Lauf. Ein geniales Konzept, welches auch mit kleinem Orga-Team einen Hundertmeiler ermöglicht, bei dem wir Läufer:innen regelmäßig vor ein riesiges Buffet treten können. Danke, dass ihr euch für unser Leiden zwei Nächte um die Ohren geschlagen habt!
Herzlichen Glückwunsch an meine beiden Mitstreiter:innen von der LG Ultralauf. Kerstin lief ein absolut souveränes Rennen in konstant hohem Tempo und konnte als Gesamtdritte und erste Frau den Lauf in 25:05 h beenden. Michael, der Routinierteste von uns allen, lief mit großer Sicherheit und Souveränität als Gesamtvierter ins Ziel in einer Zeit von 25:55 h. Ich bin sehr beeindruckt von euren Leistungen und ziehe meinen Hut!
Zum Abschluss bedanke ich mich bei meinen Mitläufern Tim und Björn, es war einfach klasse, mit euch durch den Wald zu latschen, und es war befreiend, so viel Unsinn zu erzählen und erzählt zu bekommen. Bitte bald wieder.
Philip, du bist für mich mit diesem Lauf zu einer Legende geworden. Da gibt es nichts mehr hinzuzufügen. Das war bestimmt nicht unser letzter gemeinsamer Lauf und das nächste Mal dann hoffentlich mit einem gemeinsamen Finish.

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