Text und Fotos: Matthias Kröling, 1.7.2024
Im April bin ich während des JUNUTs (ein Bericht von Michaels diesjähriger Teilnahme und von meiner letztjährigen Teilnahme) bei Km 80 im Wald hinter Matting mit dem rechten Sprunggelenk umgeknickt. Dieser weniger als eine Sekunde dauernde Moment kostete mich nicht nur mein wahrscheinliches Finish beim JUNUT 170, sondern auch meine Teilnahme beim Thames Path 100 und bei der TorTour de Ruhr 230. Klassischer man sich die Bänder als Ultraläufer kaum reißen als nachts im Wald auf holprigen Singletrails.
Von den zu Jahresbeginn geplanten langen Kanten blieb nur noch die Hoffnung auf meine erstmalige Teilnahme an einem kleinen, aber sehr feinen 100 Meilen-Lauf in Groningen (sowohl Stadt, als auch Provinz): De 100 mijl van Sint-Annen.
Gehört hatte ich vom Lauf durch einen Freund, der in den Einladungsverteiler geraten war und diese an mich weiterleitete. Da der Veranstalter nur zwanzig Personen starten lässt, entschied ich mich dazu, als früher Vogel den Wurm zu fangen und meldete mich schon im September letzten Jahres an.
Acht Wochen nach der Knöchelverletzung stieg ich in die Röhre, erst am Tag meiner Abfahrt Richtung Niederlande war die Besprechung des Befundes angesetzt. Alles ein bisschen auf Kante genäht. Der Orthopäde meinte, ich könne wieder mit dem Aufbautraining beginnen. Nun ja … ich habe ihm nicht verraten, was ich nicht mal 24 Stunden später geplant hatte (Grüße gehen raus an Sie, Herr M.!). Doch der Knöchel fühlte sich gut an und ich hatte zwei Wochen zuvor beim 6h-Lauf in Unna vorsichtig getestet ohne Beschwerden.
Also geht’s los!
Warum nach Groningen?
Na, warum denn nicht! Ich fand nur gute Gründe:
Die Homepage zur Veranstaltung ist komplett auf Niederländisch gehalten. Was sonst für mich eine kommunikative Hürde ist, fand ich dieses Mal total passend, da sich der Lauf meiner Wahrnehmung nach vor allem an lokale Läufer:innen richtet. Und wozu gibt es schließlich Übersetzungstools?
Die Geschichte zum und hinter dem Lauf ist ideenreich und originell. Aber lest selbst
Gerik, der Veranstalter, beantwortete jede meiner neugierigen Mails wahlweise auf Deutsch oder Englisch und war dabei sehr engagiert.
Die Provinz Groningen ist – wie man das von der Niederlande erwartet – plattes Land. Höhenmeter gibt’s also keine zu erwarten. Also alles gut laufbar und ein „einfacher“ 100Meiler?
Kurz zur Strecke:
Es sind drei Runden zu absolvieren.
Die erste Runde hat 66 km, die zweite Runde 55 km und die dritte Runde … richtig geraten, 44 km.
Macht mit den Nachkommastellen 166 km.
So ein flacher Hundertmeiler sollte – selbst in meinem eher unfitten Zustand – im besten Fall doch innerhalb von 24h abgespult werden können. Ergibt also folgenden groben Zeitplan:
Erste Runde: 66km in 8,5 h laufen + 0,5 h Pause
Zweite Runde: 55 km in 7,5 h laufen + 0,5 h Pause
Dritte Runde: 44 km in 7 Stunden
Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, halte ich das für absolut machbar. Nun muss sich die graue Theorie in der Praxis in der Provinz Groningen beweisen.
Start und Ziel war im Garten des Veranstalters Gerik Mik. Dort musste man sich nach jeder Runde mit einem Transponder anmelden und konnte sich dann in einem Pavillonzelt verpflegen, bevor man zur nächsten Runde aufbrach.
Auf allen drei Runden gibt es Verpflegungspunkte, die gleichzeitig als Kontrollstellen dienen. Auf der ersten Runde sind es zwei (bei Km 18 und 48), auf der zweite Runde (bei Km 29) und dritten Runde (bei Km 30) jeweils einer. Zusätzlich hat Gerik noch Wasserstellen (etwa bei einem Campingplatz und einem Friedhof) in den Track gezeichnet.
Überhaupt der Track: ohne ist nix. Die Strecke ist nicht markiert. Aber der Track war absolut exakt und eine mehrseitige Ausschreibung im Vorfeld machte noch einmal auf markante Stellen, sowie die Verpflegungspunkte aufmerksam.
Beim Blick auf die Teilnehmerliste waren noch zwei Deutsche zu sehen, Tom und Ilka von den Ultrafriesen.
Gerik versprach in einer seiner Mails an mich noch einen „Privatparkplatz“ bei seinem Nachbarn, eine warme Dusche in seinem Garten und die Möglichkeit, vor dem Lauf zu zelten bzw. hinterher in einem Bett zu schlafen. Wow, sehr cool!
Briefing im Garten des Veranstalters
Ronde 1: de Cisterciënzer ronde, 66 kilometer.
Gestartet wurde um 9:00 Uhr ausnahmsweise nicht in Geriks Garten, sondern in der Dorfmitte von Sint-Annen. Damit auch alle Nachbar:innen mitbekommen, was da los ist, wurde ein wahnsinnig lautes Alarmsignal gestartet. Neben den 19 Startern auf der vollen Distanz gingen noch 16 Läufer:innen an den Start, die nur für die erste Runde gemeldet waren.
Luftalarm als Startsignal
In gespannter Erwartung, was mein unzureichender Fitnesszustand nach dem Bänderriss vor zehn Wochen nun mit dem Rennen machen würde, reihte ich mich ganz hinten ein und zuckelte als Letzter los. Ich finde es immer wieder spannend zu sehen, dass man auch mit einem 6:30 min/km-Tempo trotzdem so lange am Ende eines Feldes unterwegs sein kann.
Gegen 11 Uhr und 18 zurückgelegten Km erreichte ich den ersten Verpflegungspunkt, der auf dem Grundstücks eines ehemaligen Teilnehmers platziert war und aus einer Versorgungskiste bestand. Um im Anschluss an mein Finish belegen zu können, dass ich diesen Versorgungspunkt auch tatsächlich angelaufen bin, mussten wir an jeder solchen Station einen Schlüsselanhänger mitnehmen. Gerik bringt es die Bedeutung dieser Schlüsselanhänger in seiner Ausschreibung auf den Punkt: Geen sleutelhanger is DNF. Dies sollte später noch mal wichtig werden für mich.
VP1 nach 18 km
Nun wurde es schon deutlich wärmer und mir dämmerte es im Schweiße meines Angesichts mit zunehmender Tageszeit: Der Sommer geht los und ich laufe den ganzen Tag in einer Landschaft ohne Schatten.
Apropos Landschaft, große Teile der Groninger Provinz und der kleinen Ortschaften, die ich passierte, bestätigten meine bisherigen Vorerfahrungen mit der Niederlande. Die Natur wirkt eher unaufgeregt mit seinen grünen Weiden und den kleinen, gemächlich dahin fließenden Kanälen. Dafür kann man den Blick permanent in diese Ferne schweifen lassen, das hat – bei aller Monotonie – auch etwas Beruhigendes und Verlässliches. Und im Zuge der Klimakrise, die an anderen Orten zu Problemen bei der Wasserversorgung führt, kam mir unwillkürlich der Gedanke, dass die Niederländer in absehbarer Zeit zumindest bei dieser Ressource keinen Mangel erleben werden. Vermutlich eher das Gegenteil, aber das soll nicht weiter Bestandteil dieses Berichts sein.
Ganz schön warm, wer hätte das erahnen können Mitte Juni.
Irgendwann in der Mittagszeit kann ich das alles nur noch am Rande bedenken, denn es wird ja schon anstrengend. Ich habe 3 Softflasks à 0,5l gefüllt mit Wasser dabei, was eigentlich auch bei den solchen Temperaturen für drei Stunden reichen muss. Aber wann sind denn endlich diese 30 km rum, man oh man, das muss doch gar nicht so anstrengend sein. Zum Glück ist der Himmel phasenweise bewölkt, sodass mir nicht immer nur die Sonne auf die Rübe ballert.
Gegen 14:30 Uhr komme ich dann am zweiten Verpflegungspunkt an und mache dort etwa 20 Minuten Pause. Jetzt sind es keine 20 Kilometer mehr und dann ist die längste Runde geschafft. Danach, so male ich mir aus, sollte es doch leichter gehen, denn wenn der Tag sich dem Ende neigt, sinken ja auch die Temperaturen und die Sonne verzieht sich für ein paar Stunden.
VP2 bei Km 48.
Auf den letzten Kilometern bleibt mir schon etwas der Saft weg, aber die Aussicht auf ein paar Minuten Frieden in Geriks Garten lässt mich auch die letzten Meter wieder leichter traben. Mein Transponder plingt schließlich nach absolvierten 8:03 h auf, als ich mich in Geriks Garten einchecke, womit ich bereits schon auf den 6. Platz vorgerückt bin.
Nun erstmal im Pavillonzelt ein bis zwei Bierchen zischen (kühles, alkoholfreies Radler aus Dosen, herrlich). Dann die üblichen Hygienemaßnahmen, Wasser auffüllen und dann geht’s nach einer großzügigen halben Stunde Aufenthalt wieder los.
Musterbeispiel der Strecke: Wiese, Kanal, Pfad, geradeaus, kein Schatten.
Ronde 2: Ik zai de vogels tegen d’oavendlucht, 55 kilometer
Runde zwei ist laut Ausschreibung die einzige der drei Runden, die komplett auf harten Untergründen gelaufen wird (Asphalt, Beton, Pflastersteine). Ein Läufer, mit dem ich auf der ersten Runde kurz sprach und der aus der Stadt Groningen kommt, erklärte mir auf meine Nachfrage hin, dass er alle drei Runden im Vorfeld abgelaufen sei und diese zweite Runde als die einfachste galt, während die dritte Runde doch ganz schön anstrengend sein solle. Na gut, aber daran denke ich erst, wenn ich hier den Deckel drauf gemacht habe.
Die halbe Stunde Pause im Garten habe ich jedenfalls gebraucht, denn jetzt geht zumindest der Anfang wieder passabel. Ich kann 9-10 km im 6:30er-Schnitt joggen ohne Gehpausen. Es geht stetig westwärts mit Wind und Sonne im Gesicht. Schön und anstrengend.
Ich treffe auf Sjirk, mit dem ich einige Worte wechsle. Wir haben eigentlich ein ähnliches Tempo, aber momentan bin ich ein ganz bisschen zügiger unterwegs und er bleibt hinter mir zurück. Immer wenn wir durch städtisches Gebiet laufen, ist große Aufmerksamkeit bei der Navigation gefragt, die ich dieses Mal zum ersten Mal überhaupt komplett mit der Karte auf meiner Uhr durchführe. Nachdem es kilometerlang relativ einfach nur geradeaus ging, muss ich mich beim Durchlaufen des schönen Städtchens Winsum konzentrieren und habe direkt einen kleinen Verlaufer drin.
Hier geht mir aber auch immer wieder die Kraft aus und ich streue seufzend Gehabschnitte ein. Bei einem Campingplatz fülle ich meine Softflaks wieder mit Wasser auf und treffe dort auf Sjirk, von dem ich dachte, ich hätte ihn längst hinter mir gelassen. Aber so schnell ist er wieder da, nachdem ich doch einige Meter gegangen bin.
Eine von vielen wirklich schönen Kirchen am Wegesrand.
Nach einer kurzen Erfrischung unter dem Wasserhahn beim Campingplatz geht es zunächst wieder besser und ich kann einige Kilometer am Stück laufen. Allerdings verlässt mich die Kraft schon bald wieder und nach ca. 21 Km auf dieser Runde muss ich mir selbst eingestehen, dass es so nicht weitergehen kann.
In Schouwerzijl setze ich mich an den Kanal und genehmige mir eine kleine Pause. Ich muss dringend was essen, sonst krebse ich den Rest der Runde (und wohl des Rennens) in kläglicher Manier so vor mich hin. Also lieber jetzt Zeit investieren und Kraft tanken. Ich hole meine „Notfall“-Limo aus dem Rucksack und trinke ein paar Schlucke von der süß-zuckrigen Rhabarberschorle. Dann schaffe ich es tatsächlich, einen ganzen Müsliriegel zu essen.
So, das war gut. Das sollte auch reichen, um die restlichen neun Kilometer bis zum einzigen offiziellen Verpflegungs- und Kontrollpunkt auf dieser Runde laufend zurückzulegen.
Pause machen, um Kraft zu sammeln.
So ganz langsam spüre ich die sinkenden Temperaturen und auch mein Schatten wird erfreulicherweise immer länger. Es kommt jetzt die Tageszeit, die mir bei solchen Läufen am besten gefällt: der Abend. Es ist noch einige Stunden hell und trotzdem ist es nicht mehr so drückend wie noch am Tag.
In meinem Kopf erinnere ich ein Foto aus der Ausschreibung vom nächsten VP „Bethlehem“ bei Km 30,irgendwas. Ein großes, einzeln stehendes Haus, eigentlich eher ein Bauernhof und der Track führt mich einmal direkt auf das Grundstück und dann wieder zurück.
Doch zuerst muss ich durch das Städtchen Leens. Ich kurve durch die Straßen, mal links rum, mal rechts rum und dann bin ich wieder raus. Jetzt muss der VP hier irgendwo sein, ich habe die 30km auf der Uhr. Der Track führt mich wieder raus aus Leens und ich passiere einige Höfe. Jeder einzelne kann nun der VP sein, aber es ist keiner von ihnen und ich vertröste mich jeweils auf den nächsten. Insgeheim freue ich mich: ist ja nicht so schlimm, wenn der VP später kommt, dann ist der Weg zurück zum Start/Ziel eben noch kürzer in dieser Runde!
Aber als ich schon über 31km zurückgelegt habe und auch den letzten Hof von Leens hinter mir gelassen habe, überkommt mich auf einmal ein schrecklicher Gedanke. Was ist, wenn ich mich vertan und den VP verpasst habe? Hektisch hole ich das Handy raus, klicke die runtergeladene Ausschreibung an und suche die Info über die VPs raus. Im nächsten Moment wird mir flau im Magen. FUCK. Ich habe den VP verpasst. SO EINE SCHEIßE. Ich hatte mir den VP falsch gemerkt, „Bethlehem“ bei Km 30,8 ist der VP in der dritten Runde, nicht in der zweiten. In dieser Runde ist der VP in Leens, und zwar zu Beginn des Örtchens bei Km 29. DAS KANN DOCH NICHT WAHR SEIN. Ich bin an dem VP vorbeigelaufen ohne ihn zu bemerken und dann 2,5 km zu weit gelaufen, bis ich meinen Fehler bemerkt habe.
Die Wut über meinen dämlichen Fehler setzt Energien frei und ich laufe im 6er-Schnitt zurück Richtung Leens. FUCK FUCK FUCK. Ich muss natürlich zurück. Nicht nur wegen meiner Wasservorräte, sondern vor allem, um mir den Schlüsselanhänger zu holen. Nicht umsonst ist der VP eine Kontrollstelle. Also nun 2,5 km zurück und dann wieder bis zu dieser Stelle, insgesamt 5 km (oder mindestens 35min) obendrauf. So ein Mist.
Natürlich kommt mir auf meinem halben Rückweg Sjirk entgegen, der mich etwas verdutzt ansieht und den ich hektisch über meinen Fehler aufkläre. Der Rückweg nach Leens und die Suche des VPs kommen mir wie eine Ewigkeit vor.
Wie konnte ich überhaupt daran vorbeilaufen? Ich bin wohl stur mit Blick auf den Track gelaufen und während ich völlig korrekt links in eine Straße abbog, lag an der gleichen Kreuzung, aber eben rechts von mir, ein eher unscheinbares Haus. Die kleinen Schilder hatte ich übersehen.
Am VP bin ich immer noch total sauer, aber das ältere Paar, das mich in seiner Garage empfängt und mir direkt ein Stück Erdbeerboden serviert, tut wirklich alles, um mich aufzumuntern. Ein weiterer Läufer, der dort sitzt (und den ich eigentlich schon vor langer Zeit hinter mir gelassen hatte…seufz) klärt mich beim gemeinsamen Verlassen des VPs 25 Minuten später auf, dass die ältere Dame, die uns dort gerade bewirtet hatte, weit über 700 Marathonläufe auf dem Buckel hat. Wow!
Nun arbeite ich mich wieder zurück, es hilft ja nichts. Nico, mit dem ich zusammen diesen VP verlasse, ist leider etwas langsamer als ich und ich laufe relativ schnell wieder allein weiter.
VP 3 nach Km29 der zweiten Runde.
Nun wird es langsam dunkel. In Wehe den Hoorn ist es schon kurz vor elf und ich kann durch die Wohnzimmerfenster erkennen, dass viele Leute Fußball schauen. Es ist angenehm, sich nun zu bewegen und ich kann einige Kilometer laufen. In meinem Kopf bin ich immer noch nicht beruhigt und denke mir ganz oft: jetzt wäre ich eigentlich schon fünf Kilometer weiter vorn und dem Ende der Runde viel näher.
Es zieht sich halt dann doch noch mal ganz ordentlich. Etwa 4,5 km vor Ende der Runde setze ich mich auf eine Leitplanke und muss noch mal meinen Zucker-Joker ziehen. Um 1:24 Uhr bin ich dann wieder zurück in Geriks Garten und checke mit meinem Transponder ein. Für diese Runde habe ich knapp 7:45 h gebraucht – allerdings war sie aber auch statt 55 km über 60 km lang.
Während der Führende schon lange wieder unterwegs und nun auf der dritten Runde ist, ist Sjirk erst zwanzig Minuten vor mir eingetroffen und futtert gerade einen Nudelsalat. Das sieht gut aus, will ich auch. Ich versorge mich ebenfalls mit Nudeln, knacke eine Dose Amstel Radler 0,0 und wickle mir während der Pause eine Wolldecke um die Beine, denn es ist nun doch etwas kühler. Der Körper ist natürlich etwas erschöpft, aber alles kein Problem, das kenne ich.
Abendstimmung.
Nur noch eine Runde. Noch 43,7 km und dann ist es durch.
Ich frage Sjirk, ob wir nicht die letzte Runde gemeinsam angehen wollen, ich würde gegen 2 Uhr loslaufen wollen. Sjirk ist dabei.
Ronde 3: presteren wordt beleven, 44 kilometer
Meine Vorbereitung für die letzte Runde dauert dann doch länger (Flaschen füllen, nachschmieren etc), es geht nach 130 km (auf meiner Uhr) eben dann doch nicht mehr alles so flink.
Um 2:15 Uhr starten wir gemeinsam auf die letzte Runde. Im Vorfeld hatte ich die drei separaten Tracks zu einer großen Runde zusammengefügt. Dadurch, dass wir auf teilweise gleichen Wegen nach Sint-Annen eingelaufen sind, hat meine Uhr sich vertan und war mit der Strecke schon durch. Ich musste daher die dritte Runde separat starten. Etwas schade für die Statistik, aber auch kein Drama.
Sjirk und ich zuckeln los. Gut, dass es um diese Tageszeit (nämlich mitten in der Nacht) doch relativ dunkel ist, so muss niemand sich Sorgen um uns machen, weil unsere steifen Laufversuche kaum zu erkennen sind. Ganz dunkel wird es im Übrigen nie. Wir haben einen tollen Vollmond und am westlichen Horizont immer einen orange-silbrigen Streifen, der die ganze Nacht über sichtbar bleibt. Richtig schön!
Wir versuchen etwas Smalltalk und tauschen uns über frühere Läufe und unsere Erfahrungen aus. Sjirk hat auf die 24h eine Bestleistung von 207km stehen und war schon zweimal beim Spartathlon erfolgreich. Ich spreche ihn darauf an, dass ich auch diesen Lauf gern unter 24h schaffen würde. Sjirk meint, dass das eng werden könne, aber es wäre möglich. Er ist schneller als ist (hat auch nicht so viel Körpergewicht zu schleppen :-D) und ich merke, dass ich sein Tempo nicht halten kann, also lasse ich mich zurückfallen.
Die dritte Runde soll es ja in sich haben. Ich bin also irgendwie gewarnt, gleichzeitig habe ich keinen Plan, was genau da auf mich zukommt. Nach sechs Kilometern, die ich mit kurzen Gehpassagen mit ca. 8km/h bewältigen kann, ist auf einmal der Asphalt zu Ende und ich stehe vor einem Feld. Eine Graspassage führt hindurch bzw. ein solcher Pfad lässt sich irgendwie erahnen im Licht meiner Stirnlampe. Nach wenigen Metern ist klar: hier kann ich nicht laufen, keinen einzigen Meter. Der Boden ist einfach zu uneben. Hundert Meter dämmert eine weitere Erkenntnis: meine Füße werden nass, denn auf dem Gras ist Tau.
Diese erste Gehpassage ist noch nervig, aber eine gute Vorbereitung auf das Kommende.
Die kommenden Stunden gleichen sich. Lange Gehpassagen – oft am Rande von Feldern oder entlang an Kanälen – ziehen sich in die Länge und wollen und wollen einfach nicht enden. Einige hundert Meter vor mir erkenne ich die Stirnlampe von Sjirk, der sich nicht richtig absetzen kann. Einige hundert Meter hinter mir leuchtet die Lampe von Nico, der nur eine kurze Pause in Sint-Annen gemacht hat, und mit einem schnelleren Marschtempo wieder aufschließen könnte. Zwischen diesen schier endlosen Feldern gibt es hin und wieder ein paar hundert Meter Asphalt, die ich versuche, komplett zu laufen.
Und während sich der Untergrund nicht ändern will und die Kilometer in Zeitlupe zäh dahinfließen, wird es bald wieder hell. Nun triefen die Gräser nur so vor Tau und das Wasser schnalzt in meinen Schuhen. Es fühlt sich jetzt an, als würden meine Füße in den Schuhen schwimmen. Ich bin müde und schaffe kaum 4 km/h.
Unendliche Felder, kein Laufen möglich, da gar kein richtiger Pfad.
Für den ersten Halbmarathon auf dieser Runde benötige ich ewig lange 3:37 h und es ist kurz vor 6 Uhr morgens. Ein Finish unter 24h kann ich mir mal gepflegt in die Haare schmieren, meine Uhr zeigt als „estimated time of arrival“ 9:44 Uhr an. Klar habe ich noch 3 Stunden Zeit, um ein sub24h-Finish einzutüten, aber ich muss auch noch über 22 km zurücklegen. Scheint bei diesem Tempo unter den gegebenen Streckenbedingungen doch utopisch.
Doch nun scheint erstmal keine Graspassage mehr zu kommen. Das pittoreske Örtchen Middelstum, welches ich nun in aller Herrgottsfrühe an diesem Sonntagmorgen durchquere, liegt still und friedlich da. Kein Mensch sieht mir dabei zu, wie ich über die mit Klinkersteinen gepflasterten Gassen stolpere. Und auch nach dem Ortsausgang kein Gras mehr. Ich wittere Morgenluft (haha) und zuckel wieder mit 8 km/h immer dem Track hinterher.
Nun bin ich besser vorbereitet und weiß, dass der VP Bethlehem bei Km 30 zu erwarten ist. Und wenn die Landschaft weit genug aufzieht, kann ich sogar wieder Sjirk vor mir erkennen.
Acht Kilometer und eine Stunde später erreiche ich um 6:55 Uhr den letzten VP dieses Rennens. Sjirk ist kurz vor mir eingetroffen und wir stärken uns gemeinsam. Und plötzlich ist der Gedanke wieder im Kopf, dass es möglich ist. Es verbleiben noch 14 km und wir haben noch 2 h dafür Zeit. Es ist möglich!
Um 7:05 Uhr brechen wir wieder auf. Ich möchte kein einsamer Wolf sein und keine Ego-Nummer durchziehen, weiß aber, dass ich in meinem Zustand lieber bei meinem eigenen Tempo bleibe, um es tatsächlich schaffen zu können. Ich laufe etwas schneller an als Sjirk und er bleibt hinter mir.
VP 4 knapp 14 km vor dem Ziel.
Nun kommt die dritte Luft. Ich schaffe nun wieder 9km/h, laufe sogar 2-3 km am Stück ohne Gehpausen. Eigentümlicherweise folgt mir der Hofhund vom VP Bethlehem. Er ist total verspielt und zutraulich und läuft immer voraus. Nach einigen Kilometern wird es mir unheimlich, weil er einfach nicht wieder zurückläuft. Mist! Ich will doch keinen Hund kidnappen! Was soll ich machen? Der versteht bestimmt nur Kommandos auf Niederländisch, was bekanntermaßen also keinen Erfolg haben wird. Überhaupt habe ich von Hunden keine Ahnung. Ich blicke mich ein paar Mal hilflos um und überlege sogar, auf Sjirk zu warten, um ihn zu bitten, etwas zu unternehmen. Aber dann laufe ich doch weiter und hoffe einfach, dass der Hund wieder umkehren wird. Sieben Kilometer vor Schluss überquere ich auf einer Stahlbrücke einen kleinen Fluss. Die Lücken im Stahlgitter sind zu groß, der Hund bleibt verunsichert zurück. Ich blicke mich regelmäßig um in der Hoffnung, ihn den Heimweg antreten zu sehen. Dann ist er aus meinem Blick verschwunden. Ich werde bei der nächsten Gelegenheit (also am besten erst im Ziel) Sjirk fragen, wie er die Sache einschätzt.
Um 8 Uhr weiß ich, dass ich das sub24h-Finish schaffen werde, denn es sind jetzt nur noch knapp 6 Kilometer. Mit dieser Gewissheit erlaube ich mir wieder ein paar Gehpausen.
Dann ist der letzte Kilometer angebrochen und ich jogge den Rest zu Ende. Ein letztes Mal laufe ich in Geriks Garten ein und beende meine Runde um 8:43 Uhr nach 166 regulären Wettkampfkilometern, weiteren 5 Extrakilometern für’s Vorbeilaufen am VP und noch ein paar hundert Metern, die ich mich verlaufen habe.
Ich erhalte eine winzige Medaille (eine Art Plakette der heiligen Anna) und darf meine vier hart erarbeiteten Schlüsselanhänger behalten. Nur drei Minuten nach mir trudelt Sjirk ein. Er hat versucht, den Besitzer des Hundes zu erreichen, aber leider auch keinen Erfolg gehabt.
Die Dusche im Garten ist absolut wohltuend und dann breche ich auch schon bald auf.
Von diesen Schlüsselanhängern galt es derer vier zu sammeln an den Kontrollstellen.
Auch wenn der Lauf doch anstrengender war als gedacht, bin ich sehr dankbar. Ich habe den Lauf in 23:43 h auf dem zweiten Gesamtplatz beenden können. Leider haben es von den 19 Startern über die volle Distanz nur 10 ins Ziel geschafft. Das wichtigste aber ist, das mein Knöchel gehalten hat.
Mal sehen, was mich läuferisch in der zweiten Jahreshälfte noch so erwartet
Mein erstes 100 Meilen-Finish in diesem Jahr.