Thames Path 100

Bericht und Bilder von Matthias Kröling

Seit einigen Jahren schiele ich etwas neidisch auf die „Insel“. Im Vereinigten Königreich gibt laut DUV-Laufkalender ca. 30 Läufe über die (ungefähre) 100Meilen-Distanz, in Deutschland kann der suchende Ultraläufer sich glücklich schätzen, wenn er aus fünf hiesigen Veranstaltungen pro Jahr wählen kann. Da darf dann schon nichts mehr schief gehen, Jahresplanung, Training, Gesundheit müssen sitzen.

Doch warum ist der Unterschied eigentlich so groß zwischen UK und D? Habe ich auch ChatGPT gefragt. Ohne den Leser:innen das Vergnügen zu nehmen, dies selbst mal recherchieren zu wollen, hier ein Teil der Antwort, über die ich schmunzeln musste:

„In Großbritannien ist ein 100-Meiler für viele ambitionierte Amateurläufer ein ‚normales Ziel‘, ähnlich wie in Deutschland ein Marathon. In Deutschland ist das 100-Meilen-Format eher eine Nische innerhalb einer Nische.“ (ChatGPT)

Hiermit ist es also offiziell KI-attestiert: ich bin der Liebhaber einer Nische innerhalb einer Nische.

Im vergangenen Jahr wollte ich das erste Mal nach England, um dort – als Einstieg in die Szene – den Thames Path 100 unter die Füße zu nehmen. Drei Wochen zuvor habe ich mir dann beim JUNUT einen Bänderriss zugezogen — und damit goodbye, ihr Frühjahrslaufpläne.

Im nun (wirklich nicht mehr) neuen Jahr soll alles besser werden. Hoffte ich. Also meldete ich mich bereits im Oktober voller Vorfreude auf ein verletzungsfreies Jahr 2025 wieder an. (Auch deshalb, um noch einigermaßen kostengünstige Zugtickets zu schießen.) Das alte Jahr beendete ich mit Knieproblemen, Ende Januar entschied ich mich zu einem kompletten Maschinenstop. Mitte März und damit acht Wochen vor einer möglichen Teilnahme am TP100 habe ich dann gaaanz vorsichtig wieder begonnen. „Unstimmigkeiten“ im Knie gab es weiterhin, aber der große Krach ist ausgeblieben. An den letzten drei Wochenenden vor England schließlich etwas höher gepokert mit dem Absolvieren von einem Marathon. Immer noch kein Veto von meinem Knie. Juhu, auf geht’s!

Ich war lange schon nicht mehr so aufgeregt vor einem Lauf. Der Veranstalter „centurion running“ ist ein Profi im für mich besten Sinne des Wortes: klare, verlässliche Kommunikation, lückenlose Organisation, (seeehr J) ausführliche Information, reibungslose Abläufe. Ein Satz von James Elson aus dem Briefing ist mir in Erinnerung geblieben: „You will be treated as the most important person as a human being, not a number. You are not a number, you are a name. We will look after you the very best we can and do anything we can to help you get to the finish.“ Marketing-Sprech mögen die Einen sagen, was soll er denn auch sonst sagen, meinen die Anderen. Ich find’s großartig. Schon bevor ihr etwas vom Lauf gelesen hat, hier also schon mal eine unverhohlene Empfehlung.

Kurz zur An- und Abreise. Ich bin noch nie durch den Channel gefahren und wollte gucken, ob es möglich ist, auf den Flieger zu verzichten. Von Köln kann man mit einmal umsteigen in Brüssel in zwei gut verdaulichen Etappen direkt nach London fahren. Vom Dom zum Tower in fünf Stunden. Am Freitag (Brückentag!) fuhr ich nach London und übernachtete dort bei einer alten Bekannten. Dort erfuhr ich, wie teuer eine Wohnung in London sein kann (spoiler: es übertrifft alle Vorstellungen und doppelt München locker) und dass das Wetter in England deutlich besser ist als sein Ruf. Die Bedingungen an diesem Wochenende sind ziemlich gut. Nachdem es unter der Woche heiß war, sollte es nun etwas abkühlen. Geregnet hatte es sowieso seit viel zu langer Zeit nicht mehr. Schlecht als Symptom der Klimakatastrophe, in der wir uns ja trotz (oder leider gerade vor allem wegen) Donald Trump und Co. noch befinden, aber immerhin gut für Ultras auf Trampelpfaden.

Kurze Panik beim Umsteigen im ÖPNV in einer fremden Metropole (was mache ich, wenn die herausgesuchte Verbindung aufgrund von Bauarbeiten nicht möglich ist?), gefolgt von sofortiger Gelassenheit beim Abholen der Startnummer und des Trackers. Endlich, endlich ist race day da! So lange ich darauf gewartet. Wird meine Knie halten? Werde ich es unter 24 Stunden schaffen bei diesem Lauf, den der Veranstalter als „flat and fast“ beschreibt?

Kurz vor dem Start des „Thames Path 100“ an der mondänen Richmond Waterfront

Der Startort an der Richmond Waterside war standesgemäß. Die Aufregung legte sich allmählich als klar wurde, dass ab nun alles seinen Gang geht. Startnummer abholen, Dropbag aufgeben, nochmal auf’s Klo, einschmieren, Schuhe schnüren, in die Sonne blinzeln. Pünktlich um 9:00 Uhr Ortszeit der Start und 300 Läufer:innen machen sich auf den Weg Richtung Oxford.

Das Feld schlappt los. Freudige Erwartung um mich herum. Aufgrund von Umleitungen sind exakt 102,19 Meilen zu absolvieren.

Die 10 Meilen bis zur ersten von insgesamt 13 Verpflegungsstationen gehen relativ ereignislos ins Land. Interessanterweise mache ich mir weniger Sorgen ums Knie, als vielmehr um meine Weichteile. Pikantes Detail: Am Abend vor dem Start habe ich beim Checken meiner Klamotten bemerkt, dass ich vergessen habe, meine Laufunterwäsche einzupacken. Konkret gesagt fehlt mir meine Funktionsunterhose, die verhindern soll, dass ich mich wund scheuere. Wenn mein Finish nun an einer falschen Unterhose scheitern sollte… bei dem Gedanken daran schüttelt es mich vor Scham.

Der VP „Walton-on-Thames“ ist bei ca. 17,5 km nach 1:57 h erreicht. Das Feld ist hier noch ziemlich dicht beisammen. Und so drängt sich alles an den Tischen. Ich bleibe kurz stehen, lasse eine Softflask auffüllen, nehme mir Nüsse und Obst, dann geht es direkt weiter.

Diese ersten Kilometer sind von Vorsicht geprägt. Was sagt das Knie? Sind die Reibungen, die ich zwischen den Oberschenkeln wahrzunehmen meine, nun eher Einbildung oder lässt die erste Scheuerstelle tatsächlich nicht mehr lange auf sich warten? Erneut wird mir ganz heiß vor Scham, dass dieser Lauf daran scheitern könnte, dass ich nach weniger als 50 km aussteigen muss, weil ich Blödmann die passende Unterhose zu Hause vergessen habe.

Vielleicht denke ich nicht allzu lange nach, sondern konzentriere mich mal auf die Umwelt.

Es ist schön hier an der Themse. Urbanes Gebiet wechselt sich ab mit naturbelassenen Abschnitten. Die weißen Lackierungen der kleinen, an den Ufern angetäuten Motorbooten blitzen und funkeln in der Sonne. Regelmäßig ziehen Ruderer in Einern und Vierern mit kraftvollen, gleichmäßigen Schlägen in der Mitte des Flusses ihre Spuren. Wir laufen mal auf unbefestigten Pfaden direkt am Ufer oder nur wenige Meter davon entfernt, mal auf kurzen, gepflasterten Promenaden. Ein ums

andere Mal kommt mit der Gedanke in den Sinn, wie herrlich das Leben für diejenigen sein muss, die ein Grundstück mit direktem Zugang zum Fluss ihr Eigen nennen können.

Blauer Himmel, blauer Fluss, flache, schattige Pfade. Läuft.

Der zweite VP in Wraysbury bei Km 36 ist nach knapp über vier Stunden Laufzeit erreicht. Toll hier! Alle Helferinnen und Helfer sind so super freundlich, füllen sofort meine Flaschen auf. Ich lasse mich kurz auf einem Stuhl nieder (ja, genau, so früh im Rennen schon). Es ist nach 13 Uhr und ehrlich gesagt ist mir ganz schön warm. Die Wettervorhersage meint, dass es im Schatten zwanzig Grad sein sollen. Das klingt total gut und fühlt sich im Schatten auch toll an. Aber sobald die Uferwege nicht von Bäumen gesäumt werden, die mir etwas Kühle spenden, merke ich meine aufkommende Erschöpfung nicht nur an der fehlenden Fitness, sondern auch an meiner mangelnden Wärmeanpassung. Aber woher soll dich auch kommen? Es ist ja gerade mal Anfang Mai.

Also nicht so viel lamentieren, sondern einfach weiter.

Eine Herausforderung für mich ist das Queren von Straßen. Mein ganzes Leben lang wurde mir gesagt, man solle zuerst nach links, dann nach rechts und schließlich wieder nach links schauen, bevor man eine Straße überquert. Das mache ich dann automatisch auch hier in England, bis mir jedes Mal gerade noch rechtzeitig einfällt, dass ich natürlich zuerst nach rechts schauen muss. Huiuiui. Ich glaube, nach den ersten zehn Überquerungen habe ich es so langsam geschnallt und wage dennoch kaum daran zu denken, wie das erst in vielen Stunden sein soll, wenn ich matschig in der Birne sein werde. Na, darum kümmere ich mich dann, wenn es soweit ist.

Den Marathon habe ich nach exakt fünf Stunden erreicht. Kein Meisterwerk der Geschwindigkeit. Aber es werden ja noch drei weitere Marathons folgen, also immer mit der Ruhe.

Abschnitte in der prallen Mittagssonne folgen. Ich genehmige mir eine Gehpause, in der ich mich – als bräuchte vor mir selbst eine Begründung für diese Art der langsamen Fortbewegung – erneut mit Sonnencreme Gesicht, Hals, Nacken und Oberarme eincreme. Regelmäßig muss ich beim Gehen an Jannik denken, einen Mitstreiter, den ich im Oktober letzten Jahres kennengelernt habe. Ich kann nicht „Mitläufer“ schreiben, denn Jannik läuft nicht. Er wandert. Oder marschiert. Beim Breckerfelder Flower Power Ultra benötigte er über die mit reichlichen Höhenmetern gespickte 100 Meilen-Strecke nur knapp 21 Stunden. Dieses Jahr gewann er ohne einen einzigen Schritt dabei gelaufen zu sein den JUNUT in etwas mehr als 33 Stunden. Motiviert von Janniks Power versuche ich auch selbst, während der Gehpausen bei einem langen Ultra mein Marschiertempo zu steigern. Allein es will nicht so recht klappen.

Links auf der Weise, da ist der Pfad zu erahnen.

Die nächste Verpflegungsstation soll nach ca. 50 Kilometern erreicht sein. „Soll sein“. Ist nicht. Es ziiiieht sich jetzt schon alles. Ich gehe eigentlich immer überaus sparsam mit meinen Wasservorräten um, aber nun sitze ich schon auf dem Trockenen. Gibt es etwas Ärgerlicheres, als sich bei einem Ultra nach dem nächsten VP zu sehnen, in voller Überzeugung, dass dieser doch schon längst da sein müsste, weil man ja so schlau war, sich die Angaben zu merken, und dennoch ist nichts in Sicht? Erschwert wird die VP-Arithmetik durch das Umrechnen von englischen Meilen in Kilometer, sowie durch die Tatsache, dass meine ansonsten tadellos funktionierende Uhr bei meinen Stops immer ein paar Meter zusätzlich aufzeichnet, sodass ich im Kopf schon bald anfange, 2-3 Km abzuziehen, um den tatsächlich bisher erlaufenden Gesamtstand zu wissen.

Dann endlich kommt die weiße Centurion-Beachflag, die an jeder Station aufgestellt ist, ins Sichtfeld. Im Rückblick stelle ich auf der Karte fest, dass wir die bekannten Städte Windsor und Eton passiert haben auf dem Weg hierher. Sorry, Sir, I didn’t notice that.

Nun endlich mal wieder hinsetzen. Es ist 15 Uhr und ich bin erledigt. Wie soll die Show denn jetzt noch weitergehen? Oh man ey.

Der VP in Boveney ist an und IN dem alten Kirchengebäude St Mary Magdalene Church aus dem 12. Jahrhundert untergebracht. Ich schnappe mir etwas zu futtern und nachdem ich kurz innehalte, ob das denn wirklich erlaubt sei, setze ich mich in eine alte Kirchenbank und genieße die Kühle im Inneren der mit dicken Steinwänden ummantelten Kapelle. Dann setzt sich tatsächlich noch irgendein Tourist (oder was weiß ich, was der hier macht inmitten des Läuferfeldes) an das Klavier und spielt Beethovens Mondscheinsonate, während vier Meter weiter ein Helfer eine Wassermelone in mundgerechte Stücke säbelt und ein halbes Dutzend Läufer:innen schon leicht angefasst auf harten Holzbänken Sandwiches futtern und Sportgetränke schlürfen. Kitschig? Surreal? Beides. Leider war ich so entkräftet, dass ich von der ganzen Station kein einziges Foto gemacht habe.

An dieser Station spricht mich auch eine Frau an, eine der wenigen deutschen Teilnehmer:innen. Es ist Eva, die heute ihren ersten Hundertmeiler läuft. Wir werden uns im Laufe des Tages noch zwei-,

dreimal begegnen. Sie wird schließlich sehr souverän am nächsten Morgen in Oxford einlaufen und finishen. In Boveney kommt sie nach mir an und ist vor mir wieder draußen.

Puh, jetzt sollte ich aber auch langsam mal wieder los. Hoffentlich kommt nun mehr Schatten! Aber auch nicht so viel daran denken, was als nächstes kommt, Hauptsache wieder weiter.

Eins von gefühlt einhundert Gattern auf dem Thames Path, die wir bei jedem Passieren öffnen und wieder schließen mussten. Eindeutig auch die Markierung des Veranstalters.

Die Kilometer fließen vorbei. Glücklicherweise sind viele davon im Schatten. Ich kämpfe jetzt schon und komme mir vor wie ein Sportler beim Tauziehen, der seine ganze Kraft aufbringen muss, um den Gegner in quälend langsamen Tempo Zentimeter um Zentimeter zu sich zu ziehen. Wissend dabei, dass er es schaffen kann, wenn er dran bleibt, weiter investiert, und doch ahnend, dass noch nicht einmal die Hälfte der Strecke geschafft ist.

Die folgenden aid stations (wie wir Briten zu sagen pflegen 😉 in Cookham und Hurley sind mir vor allem dadurch in Erinnerung geblieben, dass mir nach einigen Minuten bei mittlerweile kräftig auffrischendem Wind doch sogar etwas kühl wird und ich daher gar nicht so viel Zeit verliere. Nach wie vor bleibe ich an jedem VP aber 15-20 Minuten. Klingt viel, ist viel, brauche ich aber.

Mit großer Bewunderung möchte ich noch einmal die absolute Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der volunteers hervorheben. Komme ich an die Station, steht schon jemand mit zwei ausgestreckten Armen dort, der/die bereit ist, mir beide Flaschen abzunehmen und sofort aufzufüllen. Schneller geht es wohl nur in der Formel 1. Und auch wenn sie diese Arbeit im Handumdrehen absolvieren, ist doch keiner von ihnen gehetzt. Alle haben sie noch einen fröhlichen Spruch parat und die wiederholte Aufforderung, sie nach allem zu bitten, was ich benötige. Ach herrje, was für eine famose Gastfreundschaft.

Der Verpflegungspunkt in Henley markiert ziemlich genau die Hälfte der Strecke. Ich futtere hier ein paar Nudeln und habe die Möglichkeit, auf einen Dropbag zurückzugreifen. Genauer gesagte hätte ich die Möglichkeit, wenn ich einen solchen dort hinterlegt hätte. Hab ich aber nicht, sondern erst 20 Meilen später in Goring. Es ist mittlerweile nach 20 Uhr und ich hatte mir insgeheim schon vorgestellt, zu dieser Uhrzeit bereits ein paar Kilometer weiter zu sein. Weniger als 13 Stunden bleiben mir für die zweite Hälfte, wenn ich ein Finish unter 24 Stunden erreichen möchte. Das wird knapp und kleiner Spoiler schon mal vorab: es wird nicht klappen.

Große „aid station“ in Henley. Hier ist die Hälfte geschafft.

Doch mit Nudeln im Bauch und frisch eingeschmierten Füßen und Weichteilen begebe ich mich auf die zweite Hälfte. Obgleich diese Hälfte natürlich mehr Zeit in Anspruch nehmen wird als die erste, klappt es psychologisch bei mir besser. Als würde man von nun an bergab gehen. Was sich de facto ganz schnell als Trugschluss herausstellt, da es nun eine von mehreren Umleitungen gibt, die mich zunächst auf einem ziemlich steilen Trail bergauf führen. Oben angekommen und mitten im Wald stehend, ist es nun Zeit, die Stirnlampe aufzusetzen. Ich genieße diesen Moment bei jedem Lauf sehr, denn dieses Ritual läutet gleichzeitig die nächste Etappe beim ein: Der Tag neigt sich seinem Ende entgegen, die scharfen Konturen verschwinden, die Schatten legen sich über Stein und Wurzel und insofern ich mich nicht dazulegen möchte, weil ich sie übersehe und stolpere, muss ich nun selbst für Licht sorgen.

Spätestens mit dem Aufsetzen der Stirnlampe ist bei Läufen im Frühjahr und Sommer aber auch klar, dass es von nun an kühler wird. Das kommt mir sehr entgegen! Auch wenn das Laufen mir nach wie vor schwer fällt und ich hier und da einige Meter gehe, so strengt es aber nicht mehr so sehr an wie noch vor ein paar Stunden.

Nächster Halt: Reading. Meine Uhr zeigt ein paar hundert Meter vorher das Überschreiten der 100km-Marke nach 13:15 h an, doch ist sie damit der real zurückgelegten Entfernung 2-3 km voraus. Der VP ist, wie auch alle noch folgenden aid stations, überdacht und beheizt. Kleine Gemeinheit in Reading sind die knapp 15 Treppenstufen, die es vorher zu überwinden gilt. Aber was tut man nicht alles für ein bisschen Suppe.

Als ich 20 Minuten später die Treppe wieder herunterstakse, ist es kurz vor 23 Uhr und ich zittere wie Espenlaub (oder wie das heißt). Man, ist mir kalt! Das hat man nun davon, wenn man sich zu lange in beheizten Räumen aufhält. Die Armlinge, die ich schon in Henley aus meinem Rucksack gekramt hatte, müssen es nun richten, gemeinsam mit dem Buff und einer Mütze. Laufen ist erstmal nicht möglich und ich versuche mich an einem passablen Marschierschritt, gedanklich bei Jannik und seinem Monster-Wandertempo. Mit Ach und Krach schaffe ich einen und dann noch einen zweiten Wanderkilometer unter 9 min. Dann holt mich ein schnellerer Wanderer von hinten ein, mit dem ich dann aber zunächst etwas gemütlicher gehe und dann schließlich endlich sogar einen Kilometer – einen echten, ganzen, vollständigen Kilometer! – jogge. Er fragt mich, ob sich der Mauerweglauf

lohne und ich antworte ihm, dass die zwei Dutzend VPs natürlich ein Traum seien, man sich aber gerade deshalb echt zusammenreißen sollte, nicht zu viel Zeit zu verlieren.

Mittlerweile sind die Kilometer, die ich unter 8 min schaffe, eine Seltenheit geworden. Der Gesamtschnitt macht es immer deutlicher, dass ich mich von den sub24h verabschieden muss.

Der Veranstalter „centurion running“ hat die gesamten 100 Meilen markiert. Allerdings nicht mit diesen permanenten Markern, sondern mit magentafarbenen, reflektierenen Flatterblättern. Verlaufen kaum möglich.

In Pangbourne sind exakt zwei Drittel des Laufs absolviert. Ich esse Suppe und Kartoffeln, dann wieder frierend hinaus in die Nacht. Der Weg ist mittlerweile trailiger geworden und wird es bis zum Ende bleiben. Single-Trail kann traumhaft sein, aber nach 110 Km und in der Dunkelheit ist bei mir nicht mehr so easy going. Rückblickend ist meine Pace also alles andere als großartig, bewegt sich zwischen 8 und 10 Minuten pro Kilometer. Aber… was ist da los in meinem Kopf? Die Kartoffeln kicken ordentlich rein. Ich fühle mich…ja, sagenhaft!…ich fühle mich stark. Wie ein Dieselmotor (ich hab kein Plan von Automobiltechnik). Unzerstörbar. Auch wenn die Pace mies ist, geht es weiter, weiter, weiter.

Dann sind knapp über 70 Meilen geschafft und ich hab es doch tatsächlich bis nach Goring on Thames zu meinem Dropbag geschafft, wo ich mit dem Glockenschlag der St Thomas of Canterbury Church exakt um 2 Uhr morgens in der Village Hall eintrudele.

Bisher war ich ja nur im T-Shirt unterwegs plus Armlingen. Nun ziehe ich ein neues T-Shirt an, ein Langarmshirt direkt drüber, sowie eine Windjacke. Dazu in Ruhe essen, in Ruhe einschmieren. Apropos einschmieren, es ist wohl Zeit, dass ich noch mal auf mein Anfangsproblem zurückkomme. Das mit der falschen Unterhose. Ich kann es kurz machen, denn es ist kaum ein Problem, auf keinen Fall schlimmer als bei anderen Läufen. Ganz problemlos sind bei mir die Stellen nie, aber irgendwas ist ja immer.

Als ich aufbreche, wackle ich los mit dem guten Gefühl, dass ich den Lauf tatsächlich schaffen kann, denn es sind nur noch 50 Kilometer. Mein Tempo pendelt sich nun endgültig bei 6 km/h ein und das auch nur, weil ich es zwischen den ganzen wurzeligen Trailpassagen schaffe, hin und wieder ein paar Meter zu laufen. Ansonsten wäre ich bei 5 km/h. Ist das noch „laufen“? Nö. Ob mir das gerade egal

ist? Auf jeden Fall! In meinem Kopf geht das Rechnen los. Um etwa 13:30 Uhr müsste ich vom Bahnhof in Oxford einen Zug nach Paddington/London nehmen, um meinen nächsten Zug Richtung Brüssel zu bekommen. Damit ich alles schaffe, wäre es gut, wenn ich allerspätestens 12 Uhr im Ziel wäre und auch dann wird es mit Duschen, Umziehen und zum Bahnhof Latschen schon eng. Bleiben mir also für die noch etwa fünfzig Kilometer achteinhalb Stunden. Ist machbar, wenn ich mich diszipliniere und nicht abreißen lasse.

Die Kilometer 120-130 ziehen sich wie Kaugummi. Es ist diese Phase in der Nacht, wenn man weiß, dass alles noch ewig dauert und die Nacht am schwärzesten ist. Besonders müde bin ich nicht und wenn ich doch einmal herzhaft gähne, versuche ich sofort, das Tempo zu erhöhen und ein paar Meter zu joggen, damit sich die Müdigkeit gar nicht erst im Körper festsetzt. Umso bewusster nehme ich die Langsamkeit meiner eigenen Bewegungen wahr.

Gegen 4:15 Uhr komme ich dann in Wallingford an der zehnten aid station an. Hier ist es zwar auch überdacht, aber wir befinden uns mehr in einer Art Garage. Den beheizten Innenraum betrete ich erst gar nicht, sonst komme ich da schwer wieder raus. Nach fünfzehn Minuten bin ich wieder weg. Ich überschreite zum x-ten Mal bei diesem Lauf die Thames, doch das erste Mal seit langer Zeit ist es nicht mehr komplett dunkel. Die Singvögel geben bereits alles, der weiß-bläuliche Horizont des heraufziehenden Morgens spiegelt sich auf der glatten, ungetrübten Oberfläche des Flusses. Ein erster, kostbarer Moment des neuen Tages.

Sonnenaufgang um 05:43

Zunächst eiere ich mit steifen Muskeln durch Wallingford. Dann wird es heller und auf einmal macht es „Klick“. Ich beginne zu joggen – ganz langsam, klar – aber ich höre nicht mehr auf. Einen Kilometer in 8:10 min, dann einen in 7:30, 8:20, 7:20, 8:15, 7:10, 8:15 min. Heyhey, was ist das denn jetzt? Ganz klar, es ist die Euphorie des langersehnten Morgens.

Die letzten eineinhalb Jahre hatte ich mir immer wieder Videos bei YouTube angeschaut von Läufern, die beim Thames Path mitgefilmt hatten. Hängen geblieben sind vor allem die Abschnitte am frühen

Sonntagmorgen. Wenn der Nebel über dem Fluss steht und die goldene Sonne das Tau auf den Gräsern glitzern lässt. Es ist dieser Moment voller Leben, voller Genuss, den ich suche bei so einem Lauf. Es ist ein Genuss, für den man vorher hart arbeiten muss, konkret 20 Stunden lang.

Jetzt jogge ich mit neuer Kraft am Flussufer entlang, überhole ein halbes Dutzend anderer Läufer und mache große Augen. Momente, für die sich alles Vorherige gelohnt hat.

Bis zur nächsten und vorletzten Verpflegungsstation geht mir dann doch etwas die Kraft aus, aber umso besser geht es mir mental. Angekommen in Clifton Hampden kann ich sogar ein paar Sprüche klopfen. Trotzdem nehme ich mir hier meine Zeit und als ich gerade wieder weiterziehen möchte, fällt mir ein, dass es doch eine gute Idee, doch noch mal in Ruhe aufs Klo zu gehen.

Weiter geht’s am Fluss auf von der Trockenheit aufgerissenen single trails. Schon mehr als einmal habe ich mich gefragt, wie schwierig diese Passagen wohl zu laufen wären, wenn es regnen würde und der Untergrund schlammig wäre…? Achja, der Konjunktiv. Bin froh, dass es trocken ist und der Untergrund gut laufbar.

Noch einen Halbmarathon bis ins Ziel. Ich werde es schaffen und kann meine Zielzeit erfreulicherweise korrigieren. Es wird vermutlich zwischen 10:30 und 11:00 Uhr. Das ist gut, denn dann habe ich mehr Zeit.

Aber auch dieser Halbmarathon will erstmal gelaufen werden. Die Euphorie der ersten Morgenstunde ist zwar etwas abgeflacht, aber an ihre Stelle ist die Vorahnung einer tiefen Befriedigung getreten. Das Wissen, es zu schaffen, die Vorfreude, es geschafft haben zu können.

Ich muss schlucken.

Lästige Turnübung nach knapp 160 km, aber durch das Bücken lassen sich immerhin die Furchen in dem von der Trockenheit aufgerissenen Pfad deutlich erkennen.

Die Pfade werden schwieriger, unebener. Ich schaffe es nicht mehr, viel zu laufen. Ich sehne die Beachflag von Centurion und damit den letzten VP herbei, von dem aus es nur noch knapp 7 km bis zum Ziel sind. Auf meiner Garmin habe ich ca. 30 km vor Schluss auf das Datenfeld gewechselt, welches mir die Restdistanz anzeigt. Es kann entmutigend sein, hier zu früh eine noch zu hohe Zahl zu sehen, aber heute passt es bei mir.

Endlich, endlich, das ist die Flagge und der VP. Man kommt mir entgegen und fragt nach meinem Befinden. Ich muss mich zusammenreißen, Tränen schießen mir in die Augen. Diesmal setze ich mich nicht hin, sondern trinke nur ein paar Schlucke Cola. Oxford, ich komme!

Noch einmal über die unebenen Pfade, über Wiesen, unter umgestürzten Bäumen hindurch. Bevor ich Oxford sehen kann, lässt es sich schon erahnen, weil der Untergrund nun asphaltiert ist. Und auf einmal ist der Weg belebt. Spaziergänger:innen kommen vorbei, die überwiegend keine Ahnung haben, weshalb die Läufer:innen, die mit Startnummer vorbeikommen, so abgerissen aussehen. Der Gedanke „Wenn die wüssten…“ sorgt auch dieses Mal für ein mehr als schiefes Lächeln auf meinem Gesicht.

Dann kommen auf beiden Seiten der Thames mondäne Ruderclubs in Sicht. Nicht mehr weit. Schließlich, endlich!, verlasse ich den Fluss und biege links auf den Queen’s College Recreation Ground ein. Kurzgeschorener, feinster englischer Rasen. Und der Zielbogen!

Ich laufe ein.

Bekomme eine Dose alkoholfreies Pale Ale in die Hand gedrückt und natürlich den Finisher Buckle.

Ich stehe etwas unschlüssig rum und weiß nicht, was ich jetzt machen soll.

Meine Gedanken haben nur bis hierhin geführt.

25 Stunden 38 Minuten.

Einerseits: Viel langsamer, als ich dachte. Andererseits ist mir das gerade (und auch noch Tage später beim Schreiben dieser Zeilen) sooo egal, denn ich könnte kaum glücklicher sein als diesen Lauf endlich gefinished zu haben.

Ein Volunteer reicht mir meine Beutel und führt mich in den Duschbereich. Meine Güte, was für ein Service! Unter großen Umständen und mit penibler Sorgfalt richte ich mich wieder her. In der Umkleide kommt ein verführerischer Geruch von Hotdogs an und damit ist auch klar, was ich mir sogleich reinpfeifen werde.

Mit zwei anderen Finishern teile ich mir nachher ein Taxi zum Bahnhof. Bis Brüssel klappt die Rückreise mit dem Zug ganz gut. Aber sobald die Deutsche Bahn verantwortlich wird, klappt gar nichts mehr und ich drohe in Belgien zu stranden. Den letzten Teil meiner Reise beende ich eingeengt auf der Rückbank eines Mietwagens, den sich andere Reisende genommen haben, um noch irgendwie nach Köln zu kommen. Für mich war als Alleinreisender noch Platz und so musste ich mir kein Hotel in Brüssel suchen.

Was bleibt, ist (mal wieder) eine tiefe Befriedigung, aber vor allem Erleichterung. Ich kann es noch. Mit Training wäre deutlich schöner, um einiges schneller. Aber die Erinnerung ist vielleicht umso süßer – an den mäandernden Fluss, der Nebel über den Feldern, die unter- und dann wieder aufgehende Sonne, der sich ewig dahin schlängelnde Trail.

Ob England irgendwann mal wieder eine Reise wert ist?

Glücklich im Ziel!

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