Die Unwägbarkeiten eines 24h-Laufes machen diese Wettkämpfe oft zu einem unvorhersehbaren Abenteuer, denn es gibt Krisen, Katastrophen, aber in seltenen Fällen auch ungeahnte Glücksmomente. Der Wettkampf lebt vom Umgehen mit Unvorhergesehenem und der gegenseitigen Hilfe. Von allem gab es reichlich bei der 12. Endurance 24h in Espoo.
Ende Februar findet in Espoo, ein direkt an Helsinki angrenzender Ort, ein international besetzter 24h-Lauf in einer Halle statt. Für meine Trainerausbildung hatte ich als Hausarbeit etwas zum Training für den 24h-Lauf sowie zur speziellen Situation der Wettkampf-Betreuung geschrieben. Konkret sollte ich einen Sportler auf einen Wettkampf vorbereiten und dort begleiten und so kam es, dass Fabian Benz mit mir nach Helsinki fuhr.
Am Vortag hatten wir etwas Zeit, uns die Sehenswürdigkeiten der Stadt anzuschauen und der Dom, als eines der Wahrzeichen der finnischen Hauptstadt, stand natürlich mit auf dem Programm.
Die Stadt präsentiert sich modern und sehr sportlich. Fast jeder Park hat Fitnessgeräte und im Hafen gab es ein Schwimm- und Saunazentrum, bei dem einige nicht nur im linken, beheizten Becken schwammen, sondern auch im rechten.
Am Wettkampftag reisten wir frühzeitig zum Gelände an, um unseren Tisch einzurichten und uns mit der Infrastruktur vertraut zu machen. Die Laufstrecke hatte etwa die Ausmaße einer Stadionrunde und lag in der ersten Etage eines riesigen Sportzentrums. Auf der einen Längsseite waren die Tische der Eigenverpflegung, auf der anderen konnte man herunter auf ca 5 Spielfelder schauen, wo überwiegend Hockey gespielt wurde.
Es gab einen großzügigen Verpflegungsbereich, der alles Nötige im Angebot hatte, zweimal sogar Nudeln mit verschiedenen Soßen und am Morgen Haferbrei.
Die Laufstrecke war überwiegend sehr hell und gut zu laufen. Auch das Überholen in den Kurven war kein Problem.
Mit einem Chip, den die Läufer am Fuß befestigten, wurden elektronisch die Rundenzeiten erfasst, auf dessen Basis an einem Bildschirm informative Zwischenergebnisse den Läufern angezeigt wurden. In dem Bereich war auch gute und laute Musik zu hören, die sehr motivierend war. In der anderen Kurve war ein riesiger Fitnessbereich mit hunderten von verschiedenen Geräten einsehbar, der am Samstagnachmittag und -abend auch reichlich genutzt wurde.
Alle 6 Stunden gab es einen stimmungsvollen Richtungswechsel.
Doch nun zum Rennen selbst.
Damit mir während des Rennens nicht langweilig werden würde und ich die Möglichkeit hätte, Fabian auch auf der Runde zu begleiten, kaufte ich mir auch eine Startnummer. Insbesondere in den schwierigen, letzten 6 Stunden wollte ich ihn ziehen. Das würde allerdings einen Reinfall geben können, denn meine Form war schlecht. In Rodgau habe ich beispielsweise mit Mühe 35km geschafft und beim Grüngürtellauf ging ab der Marathondistanz ein ungewollter Kampf los und je nach Szenario war durchaus ein für mich nicht machbares Tempo vorgesehen.
Meine Idee war daher, mich die ersten 18 Stunden zu schonen, um später Fabians Tempo halten zu können. So lief ich ab und zu mit Fabian im Höllentempo eine Runde, begnügte mich ansonsten mit ganz gemütlichem Gehen und Traben, machte einige Fotos und beobachtete das Rennen im Internet, wo ein super Live-Ergebnisdient eingerichtet war, welches wieder einige abenteuerliche Taktikversuche zeigte, die überwiegend grandios scheiterten.
Da Fabian das geplante Tempo perfekt traf und sich super vorbereitet hatte, war die Betreuung recht einfach. Doch völlig unerwartet traten sehr früh Magenprobleme auf, doch all die vielen probierten Maßnahmen konnten den Rennabbruch nicht verhindern. Das war natürlich bitter für ihn. Das Training, die Vorbereitung, der Rahmen stimmte, auch die Tempo- und Ernährungstaktik passten und waren im Training dutzende Mal validiert. Er rannte als ein Test erst letzten Monat in Senftenberg in der Halle einen Tag 100km und am nächsten die 50km – ohne Schwierigkeiten! Doch diesmal gingen bei km 60 die Probleme los und Stunden später bei guten 70 km war Schluss. Später ist er dann die fehlenden Runden bis 100km noch gegangen. Respekt!
Da mir die Strecke und die Veranstaltung gefiel, einigten wir uns, nachdem er gut versorgt war, darauf, dass ich nun mein Rennen würde laufen können. Wir wechselten einfach unsere Rollen: ich lief – er betreute. Insgeheim hatte ich mir 100km an dem Wochenende vorgenommen, hätte mir aufgrund meiner Form im Idealfall 130 km zugetraut und wollte jetzt einfach einmal loslaufen und schauen, was passieren würde. Nach den ersten 6 Stunden hatte ich etwa einen Marathon auf dem Zähler und nach 8 Stunden 55 km. In der Platzierung hatte ich mich im Feld von 125 Startern in diesem Zeitraum von Platz 111 auf 107 vorgearbeitet.
Meine ursprüngliche Planung sah eher so aus, dass ich dachte, die kühle Nacht untätig zu sein und hatte nur ein langärmeliges Shirt und eine ¾ lange Laufhose mit. Das war keine gute Wahl, denn es war in die Halle sehr warm. Es bedarf kaum einer Erwähnung, dass ich der einzige im „Winteroutfit“ war, aber ich mag es ja kuschelig. Nun rannte ich in meinem Tempo los und konnte sogar viele Leute überholen. Aber so gut sich das alles anfühlte – ich musste mir meine bescheidenden Kräfte gut einteilen und legte von Anfang an regelmäßig Gehabschnitte ein.
Doch es half nichts, nach 12 Stunden war ich stehend ko. Ich musste mich hinlegen und dachte kurz über ein Rennende nach.
Aber warum? Wegen Müdigkeit beendet man kein Rennen und so nahm ich mein Rennen nach einer längeren Pause wieder auf. Und in einer Negativ-Rekordzeit von 13:33 Stunden konnte ich die 100km schließlich vollmachen. Anfangs waren meine Gehabschnitte kurz, später wurden sie immer länger, aber ich wollte aktiv auf der Strecke bleiben. Immer, wenn ich gar nicht mehr laufen konnte, habe ich mich hingesetzt oder hingelegt und ausgeruht. Obwohl ich in der zweiten Rennhälfte durchgehend ziemlich platt war, war der vorzeitige Ausstieg aus der Fülle der Optionen gestrichen und ich versuchte konsequent von Stunde zu Stunde die beste Taktik zu finden, um möglichst viele Kilometer zu sammeln. Fabian informierte mich regelmäßig über den interessanten Rennverlauf an der Spitze und über meine Platzierung und motivierte mich dabei so gut es ging. Ich hatte das erste Renndrittel annähernd verschlafen und war nun wirklich nicht schnell unterwegs, aber konnte meine Position im Feld der Langpausierer und Dauerwanderer stetig verbessern. Plötzlich wurde ich auf Platz 79 geführt und ein paar Stunden später sogar auf Platz 50. Irgendwie war ich im Rennen drin, wollte das Maximum rausholen, auch wenn es dazu notwendig war, jeglichen Ansatz von Vernunft zu unterdrücken. Regelmäßig schossen mir Gedanken über die Sinnlosigkeit des Vorhabens ins Bewusstsein. Wenn alles gut ging, würde ich 150km schaffen, vielleicht sogar 160km, falls ich wirklich 24h auf der Strecke bleiben könnte. Möglicherweise würde ich dafür als Kosten tagelang Muskelkater haben, wochenlang nicht mehr laufen können und die ganze Saison gefährden, wenn ich hier mein Limit überschreiten würde, was ich bereits seit Stunden praktizierte. Und das ganze für ein lachhaft schlechtes Ergebnis.
Aber plötzlich kam der Moment, in dem mir zwei Dinge glasklar wurden. Der wichtigste Punkt ist, dass sich die Leistung nicht über die Zahl der gelaufenen Kilometer oder die Platzierung definiert, sondern ausschließlich aus dem Grad, wie sehr man sich bemüht hat. Und der andere war Fabian. Unausgesprochen sind wir einen Pakt eingegangen, einer betreut, der andere läuft; mit dem Ziel, dass der Läufer die maximale Strecke schafft. Ok, der Rollentausch nach 8 Stunden war nicht vorgesehen, aber solange ich laufen würde, hatten wir beide eine Aufgabe und das Hiersein einen Sinn. Wir waren ein Team und aus der Bindung entwickelten wir Stärke. Hätte ich frühzeitig, aus welchen Gründen auch immer, das Rennen beendet, so hätten wir beide uns für den Rest des Wochenendes gegenseitig bemitleidet. Also musste ich weiter. Und es ging ja auch weiter. Komischerweise ging das Laufen sogar, allerdings hatte phasenweise nach 10 Metern der Puls einen gefühlten Maximalwert erreicht und nach 50m war Schluss. Aber mit dem häufigen Wechseln von Gehen und Laufen war ich deutlich schneller als die meisten im Feld.
Lange hält man diese Art von Intervalltraining allerdings nicht durch und so gab es kurz vor Schluss die Optionen, noch einmal eine längere Pause zu machen oder die restliche Zeit zu wandern. Da ich bereits im Rennen zur Genüge die Gelegenheit hatte, zu erkennen, dass, wenn ich in meinem Zustand wanderte, das eher anstrengend als erholsam und darüber hinaus langsam war, beschloss ich, ca 3,5h vor dem Rennende noch einmal eine längere Pause einzulegen. Wir hatten ausgerechnet, wann ich spätestens aufbrechen müsste, um die 100 Meilen nicht zu gefährden, aber erstaunlicherweise kam ich recht erholt aus der Pause und konnte sogar ein paar schnelle Kilometer hinlegen. Doch das Strohfeuer war schnell erloschen, die Laufpausen wurden immer kürzer und schließlich musste ich die letzten 15 Minuten gehen, glücklich wissend, mit über 165km eine nicht für möglich gehaltene Leistung geschafft zu haben.
Dieser Lauf war für mich der kurioseste und von der Renneinteilung schwierigste 24er, den ich je gelaufen bin. In der Ergebnisliste werde ich mit etwa 166km auf Platz 30 geführt, aber diese Zahlen sind nur Nebensächlichkeiten am Rande eines großartigen Wochenendes in Finnland.
Die für Fabian und mich schwer erkämpft Medaille.
Text: Michael Irrgang, Bilder: Fabian Benz, Michael Irrgang, 25.02.2019