Laufgemeinschaft der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung e.V.
Text und Bilder: Sven Furrer, 15.08.2023
ZielDas war er also, der Mauerweglauf 2023.
Ein Lauf wie kein anderer, den ich bislang absolvieren durfte. Ein Lauf, bei dem das Laufen oft in den Hintergrund rückt, da meine Gedanken um das Thema Flucht, Freiheit, Grenzen, Mauer, Tod kreisen. Ein Lauf, der genau deswegen so wichtig und laufenswert ist. Nicht des Laufens wegen, sondern um die Erinnerung wach zu halten. Erna Kelm ertrank am 11. Juni 1962 bei ihrem Fluchtversuch in der Havel bei Sacrow. Am 2. Wechselpunkt bei Kilometer 87 bekommen wir Läufer die Gelegenheit, auf kleinen Kärtchen unsere Gedanken zu Ihrem Tod zum Ausdruck zu bringen und eine Kerze anzuzünden. Für Letzteres bin ich bereits zu erschöpft und bitte einen der über 400 freiwilligen Helfer dies für mich zu erledigen. Doch ein paar Worte habe ich am Vorabend des Laufes gefunden und hinterlasse sie dort:
„Lohnt sich der Tod? Ja, wenn er im Kampf für die Freiheit erfolgt und uns alle daran erinnert, dass wir täglich um diese kämpfen müssen“
161 Kilometer liegen nach 22 Stunden und 35 Minuten hinter mir. All die gesammelten Eindrücke hier darzulegen, ist unmöglich. Dafür bietet der Lauf einfach zu viel.
Start
Da sind die innerstädtischen Abschnitte vorbei am Reichstagsgebäude, durch das Brandenburger Tor, weiter Richtung East Side Gallery, entlang an einem letzten verbliebenen Stück Mauer, Begegnungen mit aus den Clubs der Stadt ausgeworfenen Partygängern. Es folgen stupide lange Geraden entlang von Lärmschutzwänden. Dann Richtung Süden liegt die Stadt langsam hinter den Läufern und es geht auf Trails durch wilde Natur. Überhaupt bietet der Lauf weitaus mehr Pfade durch Wälder und entlang von Seen als ich mir das im Vorfeld ausgemalt hatte. Alle 5 bis 7 Kilometer eine VP. Alle VPs sind bestens ausgestattet. Man kann den Organisatoren und freiwilligen Helfern gar nicht genug danken, für deren unermüdlichen Einsatz, sich um das Wohlergehen der Läufer zu kümmern. In Potsdam zeigt sich das reiche Berlin. Prachtbauten und moderne Villen meist mit Blick auf den Jungfernsee, die im krassen Kontrast zu den Arbeitersiedlungen mancher Randbezirke stehen. Mittlerweile ist es tropisch warm geworden, die Beine sind schwer, das Anfangstempo nicht mehr zu halten. Ich hasse die hohe Luftfeuchtigkeit und sehne Regen und die Nacht herbei. Doch beides lässt noch auf sich warten. Am VP18 werde ich erlöst. Es dämmert und während ich unter einem Baum sitzend die Stirnlampe richte, bricht ein nur wenige Minuten dauernder Gewitterschauer über uns herein. Durch das Laub des Baumes geschützt werde ich kaum nass, komme aber in den Genuss der Abkühlung. Ich laufe gerne nachts. Die Kühle, der Tunnelblick begrenzt auf den Schein der Stirnlampe. Es folgen leichte Anstiege durch tiefdunklen Wald. Überhaupt erwarten mich mehr Höhenmeter als gedacht. Doch die niedrigeren Temperaturen beflügeln mich nach über 100 Kilometern noch einmal. Es geht mir besser als bei Kilometer 40, wo ich das erste Mal an Aufgeben gedacht hatte. So ist das nun einmal beim Ultralaufen. Ein beständiger Wechsel zwischen Höhen und Tiefen. Aber nach ca. 130 Kilometern ist das zwischenzeitliche Hoch verflogen. Immer öfter muss ich gehen, das Wiederanlaufen danach wird zur Qual, der ich mich aber immer wieder stelle, um mein Zeitziel unter 24 Stunden nicht zu verfehlen. Ich frage mich, ob Laufen oder Gehen überhaupt noch einen Unterschied machen, rede mir aber ein, es lohne sich zu laufen. Immer wieder dröhnen Bässe aus der Ferne in den dunklen Wald, in dem ich mich befinde. Skurril aber beruhigend: Die Stadt naht wieder. Staffelläufer stürmen an mir vorbei. So sehr ich sie um ihre Speed beneide, so dankbar bin ich für deren aufmunternde Worte. Ein letzter zäher Anstieg zum VP24, dann rollt es abwärts und die Stadt hat mich wieder. Um halb vier morgens vorbei an einem hell beleuchten Platz. Halluziniere ich? Nein, tatsächlich fröhnen hier mehrere Dutzend Menschen mitten in der Nacht dem Boulespiel. Sie nehmen kaum Notiz von mir, scheint es doch das Allernormalste zu sein, zu dieser Uhrzeit seinem Hobby nachzugehen. Das Ziel ist nun zwar zum Greifen nah, die Schritte aber immer kürzer und die Gehpausen immer länger. So ziehen sich selbst die letzten Kilometer gefühlt ewig. Dann endlich ein letztes Mal abbiegen Richtung Erika-Hess-Eisstadion. Anfeuerungsrufe einer sich bereits auf den Heimweg machenden Staffel. Eine dreiviertel Runde noch um die Eisfläche. Da ist er, der Zielbogen. Kein großer Jubel, kein kommerzielles Brimbamborium. Fast schon Stille. Finisher, die sich an Feuerstellen wärmen. Eine Stimmung, die den besonderen Charakter des Mauerweglauf meiner Meinung nach nicht besser widerspiegeln könnte. Ich begebe mich in den Massagebereich am Rande der Eisbahn und lasse mir eine wärmende Gulaschsuppe bringen… Eine, die ich mein Leben lang wohl nie vergessen werde.
Danke Mauerweglauf für alle Lektionen, die Du mich gelehrt hast.
Karte
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