Tempokonstanz-Faktor im 24-Stunden-Lauf
von Dr. Christoph Wenzel
Zur Frage der Tempokonstanz im Marathon- und im 100-Km-Lauf wurde in UM 3/2021 eine einfache Berechnung vorgestellt. Der Tempokonstanz-Faktor (TK-Faktor) gibt an, wieviel % der Laufgeschwindigkeit in der ersten Laufhälfte der/die Aktive auf der zweiten Laufhälfte erreicht hat. Da die Teildistanzen gleich sind, muss hierzu nur die Zwischenzeit 1 durch die Zwischenzeit 2 dividiert werden.
V2 D2 / T2 V2 T1—— = ———— bei D1 = D2: —— = ——
V1 D1 / T1 V1 T2
T= Laufzeiten D=Distanzen V=Laufgeschwindigkeiten
Beim Marathon-Lauf und beim 100-km-Lauf ist ein zu schnelles Anfangstempo ungünstig, weil der Stoffwechsel im späteren Rennverlauf nur noch ein langsameres Laufen gestattet.
Im Marathon werden im intensiven Dauerlauftempo zu viel der Glykogenvorräte verbraucht. Ab Km 30 stoppt die „Glykogenmauer“ dies zu schnelle Lauftempo. Die Fettverbrennung muss im Marathon so viel Energie liefern, dass die Glykogenvorräte bis zum Ziel ausreichen.
Im 100-km-Lauf wird im extensiven Dauerlauftempo die Erregbarkeit der Muskelzellmembranen zu stark gefordert. Ab Km 70 stoppt diese „Zellmembranmauer“ ein solches zu schnelles Lauftempo. Die Fähigkeit zur Zellerregung an den Muskelzellmembranen muss also im 100-km-Lauf bis zum Ziel möglichst gut bleiben.
Wie sieht es im 24-Std-Lauf aus? Lässt sich ein ähnlicher Tempokonstanz-Faktor sinnvoll ausrechnen? Wie sind die Ergebnisse bei der genügend großen Gruppe von Aktiven?
Für den 24-Std-Lauf ist die Betrachtung der erreichten Distanzen nach 12 Stunden und nach 24 Stunden am sinnvollsten. T1 = T2 = 12 Stunden. Da die Teilzeiten gleich sind, muss nur die Distanz der 2. Rennhälfte durch die Distanz der 1. Rennhälfte geteilt werden.
V2 D2
Der Tempokonstanz-Faktor TK beträgt bei T1 = T2: =
V1 D1
Der Vergleich der Geschwindigkeiten in der 2. und in der 1. Hälfte ist am besten, da durch Kürzung nur die Distanzen der 2. und 1. Hälfte dividiert werden müssen.
Das Ergebnis (am besten in Prozent) sagt aus, wieviel der Geschwindigkeit in der ersten Rennhälfte man/frau auf der zweiten Rennhälfte noch halten konnte. Ein Tempokonstanz-Faktor in %, wie für den Marathon-Lauf und den 100-km-Lauf.
Für 24-Stunden-Läufe werden nur sehr selten die erreichten Distanzen nach 12 Stunden veröffentlicht. Das wäre für die Aktiven und die weiteren Interessierten eine hilfreiche Zusatzinformation.
Im 24-Stunden-Lauf der Männer hat Aleksandr Sorokin (LIT) am 28./29.08.2021 in Pabianice/POL den Weltrekord bei einem offenen Lauf mit 85 Finishern mit einer beeindruckend hohen Tempokonstanz geschafft.
Bei den Frauen lief Camille Herron (USA) am 26./27.10.2019 bei den IAU-Weltmeisterschaften in Albi/FRA mit 346 Finishern den Weltrekord mit einer deutlich schnelleren ersten Hälfte. Sieger bei den Männern war Aleksandr Sorokin mit 278,972 Km (146,221 + 132,751).
Die TK-Faktoren betrugen bei Camille Herron 84,7 % und bei Alexsandr Sorokin 97,0 % (2019 beim seinem WC-Sieg: TK = 90,1 %).
Im 24-Stunden-Lauf der Männer wurde der Deutsche Rekord beim 1. Sri Chinmoy 24-Std-Lauf am 08./09.05.1987 in Köln von Wolfgang Schwerk mit 276,209 Km erreicht. 18 Finisher erreichten das Ziel am Rheinufer. Hans-Martin Erdmann war mit 274,119 Km nicht weit hinter Wolfgang. Leider war auch bei persönlichen Nachfragen nicht zu erfahren, welche Distanz damals nach 12 Stunden erreicht wurde.
So wird hier die drittbeste Leistung eines Mannes aus Deutschland betrachtet. Jens Lukas lief bei der IAU-Europameisterschaft in Gravigny (FRA) als Sieger am 07./08.09.2022 mit 75 Finishern eine Distanz von 267,294 Km.
Den Deutschen Rekord der Frauen lief Nele Alder-Baerens am 26./27.10.2019 bei der IAU-Weltmeisterschaft in Albi/FRA mit 346 Finishern als 2. hinter der neuen Weltrekordlerin mit einer Distanz von 254,288 Km.
Die TK-Faktoren betrugen bei Nele Alder-Baerens 84,7 % und bei Jens Lukas 97,0 %.
Im 24-Stunden-Lauf gibt es andere Werte der Tempokonstanz-Faktoren als beim 100km-Lauf.
TK-Werte von 80 bis 90 % sind gut. Mit einer exzellenten Renneinteilung sind aber noch höhere Distanzen zu erreichen.
Ein Tempokonstanz-Faktor von 95 bis 98 % erweist sich als optimal und wurde beim Weltrekord-Lauf der Männer auch so erreicht.
Aus sportphysiologischer Sicht kommt beim 24-Stunden-Lauf der Schlafmangel als weitere „Mauer“ zur Begrenzung der Leistungsfähigkeit hinzu.
Ein Absinken der Leistungsfähigkeit und der Leistungsbereitschaft im Laufe eines 24Stunden-Laufes kann zu einer längeren Schlafpause als geplant führen. Der Lauf wird danach mit weniger Ehrgeiz als zu Beginn fortgesetzt. Wer Distanzen über 200 Km erreichen möchte, läuft die Nacht durch.
Wie sieht die Tempokonstanz bei größeren 24-Std.-Läufen aus?
Dazu habe ich die Ergebnisse der 24-Std.-Läufe in Basel 2011, 2012, 2013 und 2019 sowie in Oslo 2019 und 2021 ausgewertet. Über die DUV-Ergebnisdatenbank sind auch alle 12-Stunden-Zwischendistanzen verfügbar.
In Basel steht ein flacher asphaltierter Rundkurs für einen Straßenlauf zur Verfügung, in Oslo ein flacher Tartanbahn-Rundkurs in einem Stadion für einen Indoor-Lauf zur Verfügung.
Gibt es Unterschiede in den erzielten Leistungen?
Nein: die mittleren Distanzen von 139,9 bzw. 140,8 Km der Läufe von Basel und Oslo sind nahezu gleich! Alle Ergebnisse konnten somit als gemeinsame Gruppe von 612 Finishern ausgewertet werden.
n | TK | Km | split1 | split2 | ||
M | 442 | 52,1 | 140,196 | 91,043 | 49,153 | |
W | 170 | 55,7 | 140,924 | 89,910 | 51,014 | |
gesamt | 612 | 53,1 | 140,398 | 90,728 | 49,670 | |
M20-35 | 123 | 41,6 | 129,225 | 89,697 | 39,528 | |
M40-45 | 158 | 55,5 | 152,611 | 96,964 | 55,647 | |
M50-55 | 101 | 53,1 | 144,436 | 93,098 | 51,338 | |
M60-75 | 60 | 62,7 | 122,853 | 74,752 | 48,101 | |
W20-35 | 50 | 52,6 | 140,063 | 91,115 | 48,948 | |
W40-45 | 68 | 55,8 | 152,269 | 96,708 | 55,561 | |
W50-55 | 38 | 54,7 | 128,207 | 82,625 | 45,582 | |
W60-75 | 14 | 69,6 | 123,417 | 72,359 | 51,058 |
Die vier Läufe in Basel hatten 53 – 89 Finisher, zusammen 301 Aktive im Ziel.
Die mittlere Distanz von 139,9 Km setzt sich aus 89,4 + 50,6 Km (1. + 2. Laufhälfte) zusammen. Der mittlere TK-Faktor beträgt 55,7 %.
Die zwei Läufe in Oslo hatten 156 und 155 Finisher, zusammen 311 Aktive im Ziel.
Die mittlere Distanz von 140,8 Km setzt sich aus 92,0 + 48,8 Km zusammen. Es wurde in Oslo im Mittel 2,6 Km zu Beginn mehr gelaufen, in der zweiten Hälfte dann im Mittel 1,8 Km weniger als in Basel gelaufen. Der mittlere TK-Faktor in Oslo beträgt 50,6 %.
Also keine großen Unterschiede in der mittleren Tempo-Konstanz in Basel und in Oslo.
Riesige Unterschiede zeigen sich aber in den individuellen TK-Faktoren.
Während sich nach 12 Stunden die erreichten Distanzen ähnlich wie beim 100-kmLauf voneinander unterscheiden, finden sich als Distanzen der zweiten 12 Stunden alle Werte zwischen 0 Km und fast gleichhohen Distanzen wie in der ersten Hälfte.
Die individuellen Tempokonstanz (TK)-Faktoren wurden in 6 Gruppen aufgeteilt:
TK über 90 %, über 80 %, über 70 %, über 60 %, über 30 % und bis 30 %.
70 % der TK-Faktoren lagen zwischen 30 und 89,9 %. 5 % lagen über 90 % und 25 % bei TK-Werten bis 30 %.
Die TK-Werte sind nicht mit denen im 100-km-Lauf vergleichbar.
Bei leistungssportlicher Betrachtung dürfen im 100-km-Lauf TK-Werte über 95 % als gut und unter 80 % als ungenügend klassifiziert werden.
Bei leistungssportlicher Betrachtung dürfen im 24-Std.-Lauf TK-Werte über 80 % als gut und unter 30 % als ungenügend klassifiziert werden.
Mein einziger Versuch im 24-Std-Lauf begann mit 84 Km in gut 9 Stunden, nach einer überlangen Schlafpause folgten noch 36 Km. Ich hatte die Motivation zum Erreichen einer möglichst hohen Distanz nach der Hälfte aufgegeben und den Lauf nur noch „irgendwie“ beendet. Mein TK-Faktor von 43 % hierbei zeigt eine mangelhafte Tempokonstanz.
Laufen Frauen konstanter als Männer? Die Ergebnis-Übersicht (Tab. 1) zeigt, dass sie bei den ausgewerteten 6 Läufen im Mittel mehr Distanz als die Männer erreicht haben!
Im Mittel laufen Frauen mit 3 bis 4 % höherem Tempokonstanz-Faktor im 24-Std.Lauf als Männer. Genauso groß war der Unterschied auch im 100-km-Lauf.
In den ältesten Altersklassen sind die TK-Faktoren im Mittel 11 bis 14 %-Punkte höher als im Durchschnitt. Die jungen Männer haben im Mittel 9 %-Punkte tiefere TK-Faktoren als der Durchschnitt der Männer.
Die Erfahrung der Aktiven in den hohen Altersklassen ist im 24-Std.-Lauf besonders wertvoll und wird durch die TK-Faktoren gut erfasst.
Die jungen Läufer der M20/35 erreichen im Mittel nur 129 km; die Läufer der M60/75 haben durch ihre gute Renneinteilung 123 km geschafft – das sind im Mittel 95 % der Distanz der M20/35-Finisher!
Die jungen Frauen der W20/35 erreichen im Mittel 140 km; die Läuferinnen der W60/75 haben durch ihre gute Renneinteilung 123 km geschafft – 600 m im Durchschnitt mehr als die M60/75-Finisher und im Mittel 88 % der Distanz der W20/35 Finisher!
Im 100-km-Lauf erreichten die Aktiven der AK W60/65 im Mittel 80 % der Laufgeschwindigkeit der AK W20/30, die Finisher der M60/65 im Mittel 81 % der Laufgeschwindigkeit der M20/30.
Die Altersfaktoren sind bis zur Marathon-Distanz wissenschaftlich errechnet. Die unveränderte Fortschreibung für die Ultramarathon-Distanzen ist unkorrekt. Im 24Std.-Lauf können ältere Aktive dank ihrer viel besseren Renneinteilung weit besser mit jüngeren Aktiven mithalten als im Marathonlauf oder im 100-km-Lauf.
Die Altersgruppe der 40- bis 49-jährigen ist bei den Frauen und bei den Männern im Durchschnitt am leistungsfähigsten.
Die Frauen haben bei den ausgewerteten 6 Läufen im Mittel 700 m mehr als die Männer erreicht! Eine im Mittel um 0,5 % höhere Leistungsfähigkeit der Frauen ist bei keiner anderen Laufstrecke zu finden; im 100-km-Lauf war bei den DM-Läufen 1987 bis 2017 die mittlere Laufgeschwindigkeit der Männer 8 % höher als bei den Frauen.
Wenn die mentale Bereitschaft zum „Wettkampfmodus“ bei den Aktiven der TKGruppen 5 und 6 im Rennverlauf verloren geht, ist es von Interesse, bei einer 24-Std.Lauf-Meisterschaft die mittleren Distanzen der Frauen und der Männer zu vergleichen.
Bei der IAU-Weltmeisterschaft im 24-Std.-Lauf in Albi/FRA am 26./27.10.2019 liefen die 146 Frauen im Mittel 175,347 km und die 200 Männer im Mittel 189,474 km. Eine Nominierung für das Nationalteam und ein WM-Lauf müssten starke Motivationen sein, um auch in der zweiten Rennhälfte im „Wettkampfmodus“ zu bleiben. Die Frauen erreichten in Albi im Durchschnitt 92,5 % der Distanz der Männer.
Aber: Übermotivation verführt zu einem zu schnellen Beginn in den ersten 12 Stunden! In Albi liefen die Männer im Mittel 114,343 km und die Frauen im Mittel 105,351 km in der ersten Rennhälfte. Für die meisten war das viel zu schnell!
In der zweiten Rennhälften schafften die Männer in Albi im Durchschnitt 75,131 km und die Frauen im Durchschnitt 69,996 km. Die mittleren TK-Faktoren betrugen bei den Männern in Albi 39,7 % und bei den Frauen in Albi 39,9 %.
Wenn die meisten Männer und Frauen bei einer IAU-Weltmeisterschaft viel zu schnell starten, können sie in der zweiten Rennhälfte nur 40 % ihrer Laufgeschwindigkeit der ersten 12 Stunden halten und die Männer erreichen „übliche“ 7,5 % mehr Laufdistanz als die Frauen. Die Renneinteilungen der Sieger A. Sorokin und C. Herron in Albi 2019 waren dagegen beispielhaft gut.
Zurück zu den ausgewerteten 24-Std.-Läufen von Basel und Oslo mit durchschnittlichen TK-Werten von 52,1 % der Männer und 55,7 % der Frauen.
Die Laufdistanz ist der größten Einflussfaktor auf den TK-Faktor. Die mittleren TKWerte der schnellsten Gruppe sind 63 %-Punkte höher als in der langsamsten Gruppe!
Im 100-km-Lauf betrug dieser Unterschied nur 7 %-Punkte.
Aber: was ist die Ursache und was ist die Wirkung? Die Leistungsfähigkeit im 24-Std.Lauf hängt offensichtlich sehr stark von der Renneinteilung ab. Unterschiede der Renneinteilung zeigen sich in der 2. Rennhälfte. Diese haben weitaus stärkere Folgen als im 100-km-Lauf.
Die Tempokonstanz ist somit als planerischer Teil der mentalen Vorbereitung und als Eigensteuerung beim Lauf ein eigener Faktor der individuellen Leistungsfähigkeit.
Die Tempokonstanz beeinflusst ursächlich im 24-Std.-Lauf besonders stark die erreichte Laufdistanz.
Das zeigt die Auswertung, welche mittleren Laufdistanzen bei welchen Gruppen der TK-Faktoren erreicht wurden.
Die Unterschiede der mittleren Laufdistanzen zwischen den Gruppen der TK-Faktoren ist sehr hoch. Die Gruppe mit TK-Faktoren bis 30 % erreichte nur 47 % der Laufdistanz der Gruppe mit TK-Faktoren über 90 %.
Auch im Bereich des durchgehenden mentalen „Wettkampfmodus“ der Gruppen 2 bis 4 betrugen die mittleren Distanzen nur 95 % bzw. 85 % bzw. 80 % der Laufdistanz der Gruppe mit der besten Renneinteilung.
Im 100-km-Lauf waren die Unterschiede viel geringer: die Gruppe mit der schlechtesten Renneinteilung (TK-Faktoren bis 80 %) erreichte 83 % der Laufgeschwindigkeit der Gruppe mit TK-Faktoren über 95 %.
Für die Frage der Tempokonstanz wurde eine einfache Berechnung vorgestellt. Der
TK-Faktor bedeutet, wieviel % der Laufgeschwindigkeit in der ersten Laufhälfte der/die Aktive in der zweiten Laufhälfte erreicht hat. Eine sinnvolle Gruppierung schließt auch eine klassierte Bewertung ein. Die Höhe des Einflusses des TK-Faktors auf die Laufzeit ist im 24-Stunden-Lauf besonders hoch. Die Folge einer Übermotivation zeigt sich im 24-Std.-Lauf erst in den zweiten 12 Stunden durch einen Leistungseinbruch. Wenn ein Lauf dagegen mit hoher Tempokonstanz gelaufen wird, kommt es zu einem starken Gefühl der Freude und Zufriedenheit auf der zweiten Rennhälfte.
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