Text: Michael Irrgang, Bilder: Michael Irrgang, Steffi Knopf, Axel Künkel und Miklós Jakabházy (Veranstalter EMU), 22.09.2022
Am Ende des Wettkampfes standen für mich 620km, der 13. Platz in der Einzel-, der 3. Platz in der Nationenwertung zu Buche. Auf den ersten Blick ganz ok für einen Debutanten, aber die Geschichte des Laufes ist eine andere; eine, die gespickt ist mit Höhen und Tiefen, Zweifel und Euphorie.
Mein Umfeld staunte nicht schlecht, als ich mich 2019 für den 6-Tagelauf in Balatonfüred in Ungarn anmeldete. Seit Jahren verfolgte ich diese Rennen verbunden mit der Frage, wie meine Taktik wohl aussehen würde. Coronabedingt wurde der Lauf dann von Mai 2020 mehrfach verschoben und fand dann im September 2021 statt. Hätte ich sowohl im Mai als auch im September 2020 eine gute Form gehabt, so plagten mich in 2021 Beschwerden, die mich ab November zu einer mehrmonatigen Laufpause zwangen. Als es im April 2022 wieder mit vorsichtigem Lauftraining losging, hatte ich mich schnell entschieden, meinen Startplatz in diesem Herbst wahrzunehmen, wissend, dass die Vorbereitungszeit für eine solide Vorbereitung nicht ausreicht. Dann bekam ich auch noch im Mai Corona, fiel einen Monat aus und fing anschließend wieder beim Formaufbau bei Null an. Erst vier Wochen vor dem Start entschloss ich mich final zu der Teilnahme und buchte die Reise, die mit ein paar Tagen Budapestbesichtigung begann.
Mir ging es in erster Linie darum, zu beobachten, zu lernen und auszuprobieren. 700km schien mir grundsätzlich möglich, allerdings wusste ich, dass meine Leistungsfähigkeit sehr fragil ist und ich vermutlich nicht durchkommen würde. So wollte ich vorsichtig starten und für jeden geschafften Kilometer dankbar sein.
Der 6-Tagelauf in Balatonfüred, der in diesem September bereits zum 11. Mal austragen wurde, ist die inoffizielle Weltmeisterschaft mit den meisten und den besten Startern, die aus der ganzen Welt anreisen, um dort gemeinsam ihre Grenzen auszuloten. Neben der Einzelwertung gibt es die Nationenwertung, in der immer drei Läufer/Läuferinnen einer Nation eine Mannschaft bilden.
Ich hatte das Glück mit Michael Bohm und Steffi Knopf zwei unglaublich hilfreiche Personen an meiner Seite zu haben. Michael ist ein mittlerweile erfahrener 6-Tageläufe, der mir im Vorfeld viele Besonderheiten erklären und mit dem ich alle Aspekte des Rennens detailliert besprechen konnte. Im Rennen half er und motivierte, wann immer sich unsere Wege kreuzten. Steffi war unsere gemeinsame Betreuerin, die stets aufmerksam und fleißig uns half, das Rennen ohne Verzögerungen und Störungen zu gestalten. Karsten Schiemann war mein Mitbewohner in unserem für mich viel zu kleinen Mobilhome. Während der andere Michael und ich eher ausgetüftelten Plänen folgten, so verkörpert er das spontane, bedürfnisorientierte Agieren, ohne jedoch Leistungsziele aus dem Blick zu verlieren, in dem er schläft, wenn er müde ist und isst, wenn er Hunger verspürt.
Wir vier waren ein super Team, in dem es durchaus auch Spaß machte, Kilometer zu sammeln.
Nach Zieleinlauf. Neben mir sind Steffi, Karsten und Michael (Bild: Axel)
Insgesamt gab es 8 deutsche Starter, davon 5 vom Verein LG Ultralauf. Dennoch war von Anfang an klar, trotz aller Unsicherheit ob meiner Leistungsfähigkeit, dass Karsten, Michael und ich die drei sind, auf die es ankommt, falls wir in der Nationenwertung einen Podestplatz erzielen können.
So gab es Gruppen und Untergruppen. Komischerweise beschäftigte ich mich wie ein Soziologe während des Rennens ständig damit, die Mitläufer in Gruppen zu kategorisieren. So gab es die Schnellen und die Langsamen, die Fleißigen und die Faulen usw. Stellte sich anfangs die Frage nach der Motivation zur Teilnahme, so dachte ich, dass es die Leistungsorientierten gibt, die 20 Stunden pro Tag auf der Strecke sind, um Rekorde zu erzielen und eher die Spaßorientierten, die einfach eine Woche Laufurlaub verbringen wollen, so musste ich diese Einteilung bereits in der Nacht korrigieren.
Jeder, der hier am Start war, hatte den Ehrgeiz, so viele Kilometer wie möglich zu schaffen, hatte seine Ziele, Meilensteine und eine sehr hohe Motivation. Selbst „langsame Wanderer“ standen nachts nach einer kurzen Schlafpause wieder auf der Strecke und nahmen ihr Rennen auf. Das fand ich sehr imponierend. Entsprechend wurden alle Teilnehmer angefeuert und bejubelt, wenn sie mit einer 100km-Fahne eine Ehrenrunde drehen durften. Der Geist des 6-Tagelaufes ist nicht, dass man gegeneinander Duelle ausficht, sondern jeder seine Fähigkeiten ausreizen möchte und sich die Teilnehmer dabei gegenseitig unterstützen.
Die Fokussierung auf die aktuelle Leistungsfähigkeit und der achtsame Umgang mit sich, sind allerdings über diesen gewaltigen Zeitraum von 144 Stunden nicht aufrechtzuhalten. So ist nicht nur das Mikroteam mit dem Betreuer wichtig, sondern ganz entscheidend die Unterstützung durch den Veranstalter. Das Helferteam war einfach unglaublich und war die Seele der Veranstaltung, auf dessen Nährboden persönliche Spitzenleistungen erst möglich wurden. Rund um die Uhr gab es die Möglichkeit der Massage, eine riesige Auswahl an Speisen und Getränken und stets aufmunternden Applaus und freundliche Worte.
All das kann Krisen aber nicht verhindern, sondern bestenfalls dazu beitragen, sie schnell zu überwinden und irgendwie weiterzumachen. Die Tiefe der Krisen ist mit anderen Läufen kaum zu vergleichen. Etwas übertrieben sieht man hier ein ständiges Sterben und Auferstehen.
Das Ganze ist für Außenstehende kaum zu verstehen, deswegen man auch von „Magischen Stunden“ spricht – man muss es selbst man erlebt haben und ich bin wirklich dankbar für diese Erfahrung.
Nach dieser langen Einleitung zum Rennen selbst
Der offizielle Teil begann Donnerstag morgens vor dem Start mit dem Briefing und der Zeremonie der Startnummernverteilung, bei der jeder Teilnehmer vorgestellt und feierlich begrüßt wurde. Ein allgemeines Begrüßen und Wiedersehen – viele der Teilnehmer kannten sich. Danach dauerte es auch nicht mehr lange und pünktlich um 12 Uhr erfolgte der Start.
Das Wetter war warm, etwas schwül, mein Tempo war gemütlich und in die 900m lange und nicht flache Laufrunde waren von Anfang an zwei kurze Gehabschnitte integriert. Auch wenn sich das Tempo gut anfühlte, so waren die Rundenzeiten etwas schneller als geplant. Das lag auch daran, dass ich die kurzen berghoch-Abschnitte ging, während ich es bergrunter „richtig rollen“ ließ, was ein fataler Fehler war, wie sich später herausstellte.
Obwohl ich gewiss nicht zu schnell war, denn ich platzierte mich mit meiner Leistung im Mittelfeld, kostete das ganze mehr Kraft als mir lieb war. Die Muskulatur wurde fest und fester, Krämpfe stellten sich ein und so richtig rund lief das schon nach 4 Stunden nicht mehr. Mein Gedanke war, warum 6 Tage, wo ich mit 6 Stunden schon körperlich überfordert bin und ein ganz schlechtes Gefühl kam hoch. Aber nun war ich schon einmal hier und musste die erste kleine Krise lösen. Pause machen und ab zur Massage. Dort wurde mir als erstes ein Wirbel eingerenkt, von dem ich gar nicht wusste, dass er ausgerenkt war. Auch die übrige Behandlung tat gut und man gab mir den Rat, mehr Magnesium zu mir zu nehmen, um Krämpfe zu vermeiden. So ging es deutlich besser in die Nacht. Die Taktik bei der ersten Nacht ist bei den einzelnen Teilnehmern recht unterschiedlich. Manche laufen durch, manche haben feste, längere Schlafpausen eingeplant, die ab der ersten Nacht konsequent eingehalten wurden. Ich entschied mich zu einer Hygiene- und kurzen Schlafpause. Hygienepause heißt Duschen, Eincremen, Wäsche wechseln. Sie dauerte anfangs schon unglaublich lange 30 Minuten und wurde täglich länger. Aber das ist wichtig und muss gemacht werden.
Da mich die Krampfneigung noch nicht verlassen hatte, war das Sockenanziehen eine längere Prozedur. Aber irgendwann war ich dann wieder auf der Strecke und konnte sogar gut „Kilometer machen“. Ich laufe gerne nachts, es ist ein anderes Laufen als tagsüber. Auf die Uhr schaue ich selten, habe meine Musik auf den Ohren, rede mit niemanden und träume vor mich hin. Das einzige Problem ist häufig, dass ich dabei vergesse, zu essen und zu trinken. Aber diesmal passte es ganz gut. Wenn denn nur die verkrampfte Muskulatur nicht wäre! So war es doch recht anstrengend, in den Laufabschnitten das Tempo zu halten und gegen 18 Stunden Laufzeit erschien es unvorstellbar, die verbleibenden 126 Stunden durchzuhalten. Dann kam die Eskalation zur Katastrophe. Erst ein Zwicken in der Wade, dann der punktuelle Schmerz, Laufen war plötzlich nicht mehr möglich. „Eine Zerrung – Rennende“ schoss es mir durch den Kopf. Also wieder zu der Massage. Die drei Physios waren absolute Koryphäen ihres Faches, sprachen aber nicht gut Englisch. Sie lockerten meine Muskulatur und wiesen mich darauf hin, dass man die Magnesiumtabletten kauen und nicht schlucken müsse. OK, dass hatte ich falsch gemacht. Vorsichtig ging ich weiter, laufen traute ich mich nicht, denn das Zwicken in der Wade war latent vorhanden. Das Rennen war nun 20 Stunden alt und ich war mental völlig im Eimer. Natürlich war ich schlecht trainiert, bin zuletzt oft nur 30 bis 50 km die Woche gelaufen und konnte dabei ohne Pausen keine 30km am Stück laufen – aber so hatte ich mir den Wettkampfverlauf nun auch nicht vorgestellt. So ging ich enttäuscht Runde um Runde, aber der Hauptgedanke war, das Rennen sofort zu beenden, um mich von der Qual zu befreien.
Als Steffi morgens auftauchte, teilte ich ihr mit, dass ich nicht mehr laufen konnte und nicht die restlichen Tage wandern wollte. Zum Aufgeben war es eigentlich zu früh, aber so weitermachen wollte ich auch nicht. Also was tun? In dieser Situation hat Steffi unglaublich clever reagiert und ich bin ihr sehr dankbar dafür. Wir sind zusammen zur Physiotherapeutin gegangen und haben mit einer Übersetzerin die Verletzung geklärt. Es war nichts gerissen, ich kann ohne Gefährdung laufen, sobald es die Muskeln zulassen, einfach viel Magnesium zu mir nehmen und alle 8 Stunden eine Massage nehmen.
Da Hoffnung der erste Schritt zur Krisenbewältigung ist, wollte ich das mal glauben, ging nun vorsichtig weiter und wartete die weitere Entwicklung ab. Mir wurde plötzlich klar, dass ich seit über einem Jahr keinen einzigen Höhenmeter trainiert hatte und hier stundenlang downhill gerannt bin. Das war wohl an Dummheit nicht zu überbieten. Der entsprechende Muskel war komplett überfordert und unfähig, seinen Dienst weiter auszuüben. Ist das Problem erst einmal erkannt, so liegt die Lösung meist nahe: Gehen und Dehnen. Und tatsächlich fiel mir das Gehen wieder leichter und ich versuchte, die flachen Stellen vorsichtig zu traben, was sogar gelang. Nach einiger Zeit bin ich die flachen Stellen getrabt und alle Kurven sowie die Berghoch- und den Bergababschnitt gegangen. Das war nicht ganz die geplante Pace, aber funktionierte. Am Ende des ersten Tages hatte ich nicht die geplanten 150km, sondern „nur“ 145km, aber ich war noch im Rennen. Im Nachhinein war mir „meine Krise“ richtig peinlich, denn wenn ich sah, mit welch anderen Schwierigkeiten sich die anderen Mitläufer arrangierten, so schien eine Muskelverhärtung aufgrund von Magnesiummangel und zu euphorischem Bergablaufen lächerlich zu sein.
Bereits am zweiten Tag zeigten sich erste Erschöpfungszeichen: Einige liefen immer schiefer, andere wanderten nur noch oder verschwanden über Stunden von der Laufstrecke. Ich hatte meinen Rhythmus gefunden, konnte mein Lauftempo und den Laufstil halten, meine Ernährung passte perfekt und mit meinen geplanten Pausen kam ich ganz gut über den Tag. Ab dem zweiten Tag hatte ich jeweils zwei Stunden Schlaf nachts und eine Stunde Schlaf mittags geplant.
In der dritten Nacht bin ich zu spät in die Pause gegangen. Mein Bein war deutlich dicker als normal und tat am Ende des Tages schon beim Stehen weh. Das besserte sich durch die Nachtruhe zwar ein wenig, aber nicht wesentlich. Mein Worst-Case-Szenario war Thrombose und sah mich schon die nächsten Tage im Krankenhaus. Also humpelte ich wieder zur frühmorgendlichen Massage zu den Physios. Und tatsächlich konnte ich wieder hergestellt werden und nach ein paar Gehrunden wieder laufen.
Das war nun schon das zweite Mal, dass ich dachte, das Rennen sei zu Ende. Aber irgendwie ist es so, dass auch nach der dunkelsten Nacht irgendwann die wärmende Sonne aufgeht und mit ihrer Wärme alle Probleme der Welt verschwinden lässt.
400km sind geschafft. Man beachte die unterschiedliche Dicke der Beine! Bild: Steffi
Hatte ich auch am zweiten Tag mein geplantes Kilometerziel mit einer Summe von ca 253km verpasst, so standen nach 72 Stunden 376km und nach 96 Stunden 482km auf dem Konto und die Hoffnung stieg, trotz aller Widrigkeiten die geträumten 700km zu erreichen.
Der fünfte Tag verlief unspektakulär und kurz vor Ende der 120 Stunden machte ich die 600km voll. Alles lief einigermaßen rund und es deutete sich ein 4. oder 5. Platz mit einer Kilometerleistung von 710 bis 720km an – falls nichts mehr passierte. Aber es sollte anders kommen und der Lauf ein plötzliches Ende nehmen. Plötzlich traten Schmerzen im unteren Schienbeinbereich auf und ich ahnte schon Übles, als ich wieder einmal die medizinische Abteilung aufsuchte und um Rat bat. Deutlich sichtbar war die berüchtigte Läuferkrankheit Shint-Spint zu erkennen. Eine Knochenhautreizung aufgrund von Überforderung. Das war nun doch etwas zu viel für meine untrainierten Knochen. Entzündungshemmer einnehmen, Bein kühlen und hochlagern sowie sämtliche Bewegungen einstellen waren angesagt, um eine schlimmere Entwicklung zu verhindern. Die spontane Enttäuschung war aber schnell verflogen, denn ich war sehr froh, überhaupt so weit gekommen zu sein. Mit Michael und Karsten war uns der dritte Platz der Nationenwertung nicht mehr zu nehmen und soooooo schlecht sind die 620km nun auch wieder nicht, obwohl in den letzten 20 Stunden nur wenige „gehumpelte“ Runden dazukamen. Die letzte Stunde war ich natürlich wieder auf der Strecke und ging langsam noch ein paar Runden. Die Atmosphäre war einfach unbeschreiblich.
So konnte ich miterleben, wie Gabor Rakonczay einen neuen ungarischen Rekord aufstellte und mitten auf der Strecke in seine Landesfahne gehüllt stehen blieb, Ehrungen entgegennahm, derweil die ungarische Nationalhymne gespielt wurde. Ein auch für mich ergreifender Moment. Andere zuvor nur schleichende Läuferinnen und Läufer spurteten plötzlich, um ihre Ziele zu erlangen und liefen kurze Zeit später mit ihrer Kilometer-Fahne stolzerfüllt ihre Ehrenrunde.
Dann folgte die laute Sirene, die unmissverständlich bekannt gab, dass die 144 Stunden nun abgelaufen und alle Läuferinnen und Läufer erlöst sind. Man stellte dann eine Flasche Wasser mit seiner Startnummer an den Wegesrand und ging zum Versorgungsbereich, wo sich alsbald die ganze Gruppe traf. Was da passierte, wie ich es wahrgenommen oder noch in Erinnerung habe, ist kaum in Worte zu fassen. Man gratulierte sich nicht nur, sondern man bewunderte sich gegenseitig. Mir wurde bewusst, wie genau sich die Läufer gegenseitig beobachteten und die Schwankungen des Sterbens und Auferstehens wahrnahmen. Es wurden viele Bilder geschossen und es liefen viele Tränen.
Ich brauchte schnell ein wenig Abstand und so war ich nicht undankbar, als jemand vorschlug, zum Balaton zu gehen, wo nicht nur die Füße gekühlt wurden und schöne Fotos entstanden.
So ungefähr muss man sich 6-Tage Laufen im Balaton vorstellen. Bild: Steffi
Abends gab es dann noch die feierliche Siegerehrung und ein großartiges Buffet. Bei der Siegerehrung erfuhr man dann teilweise, was für großartige Leistungen in den letzten Tagen erbracht wurden. Die über 70jährige Sandra Brown lief mit ca 611km einen neuen Weltrekord in ihrer Altersklasse. Interessanterweise war sie als der alte Rekord vor ca 30 Jahren aufgestellt wurde, als junge Läuferin dabei. In der Altersklasse M80 gewann der Ungar Pal Bozo mit 468,381km mit einem Vorsprung von genau 363 Meter vor einem spanischen Läufer, den er im Rahmen der Ehrung herzlich in den Arm nahm und um Entschuldigung bat. Es spielten sich hier Szenen ab, wie ich sie von anderen Wettbewerben nicht kenne und die mich total begeisterten.
Siegerehrung Nationenwertung. Mit Michael und Karsten erzielten wir den dritten Rang, Bild: Axel
Der 6-Tageläufer ist ein eigener Typus von Läufer, aber auch die Betreuer und die Organisatoren. Die Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft ist einfach unvergleichlich. Vieles mag daran liegen, dass es in der freundlichen Mentalität der ungarischen Helfer und Teilnehmer liegt. Und wer das als ausländischer Teilnehmer zu schätzen weiß, kommt gerne wieder.
Mein Fazit ist ambivalent. Einerseits habe ich befürchtet, gar nicht so viele Tage durchzuhalten und bin heilfroh, meine zwei großen Krisen mit fremder Hilfe überwunden zu haben, andererseits weiß ich, dass ich leistungsmäßig sicher viel mehr Kilometer schaffen kann, wenn ich denn trainiert und gesund am Start stehen würde. Aber wenn die einen Probleme nicht kommen, kommen andere und die Hochrechnungen mit dem Potential sind sehr spekulativ. Gerne werde ich meine Learnings in kürzeren Rennen über 24 oder 48 Stunden ausprobieren und dann eines Tages einen erneuten Anlauf auf die 700km wagen.
Unabhängig von der selbstkritischen Bewertung der Leistung durfte ich eine faszinierende Woche erleben, die sicher als „Lebensereignis“ stets ganz fest in meinen Erinnerungen verankert bleibt. Ich bin sehr froh, mich zu der Teilnahme entschieden zu haben.
Die Rennen der anderen Vereinsmitglieder und deutschen Teilnehmer
Ein hart erarbeiteter Meilenstein: Die 700km-Fahne! Bild: Emu
Michael Bohm lief ein sehr konzentriertes Rennen, stets bemüht, keine Sekunde zu verschenken. Dank seiner beeindruckenden Moral konnte er eine tolle Weite und Platzierung erzielen.
Norbert in seinem eigens für den Lauf angefertigten LG Ultralauf-Deutschland-Trikot, Bild: Michael
Norbert Künkel war unglaublich fleißig. Tag und Nacht war er auf der Strecke und ging langsam Runde um Runde, da sein verletzungsbedingter Trainingsrückstand ein schnelleres Tempo bei seiner neunten Teilnahme am Balaton nicht zuließ. Walter Kühnlein, in der M70 startend, war stets gut gelaunt und erzielte ebenfalls ein tolles Ergebnis. Ebenfalls in der Klasse der über 70jährige startete die Kölnerin Marlene Heller, deren Anfahrt mit der Bahn ebenfalls das Attribut „Ultra“ verdient. Auch sie traf man zu jeder Tages- und Nachtzeit auf der Strecke an.
Marlene, Walter und Karsten. Bilder: Emu, 2x Axel
Auch die anderen deutschen Teilnehmer liefen tolle Rennen. Karsten Schiemann lief mit neuer Bestweite auf Platz 6 und überraschte wie im letzten Jahr am letzten Tag durch seinen fulminanten Endspurt. Manfred Port lief, bzw ging ebenfalls ein sehr couragiertes Rennen und Daniella Dilling erzielte trotz gesundheitlicher Handicaps dank unglaublichen Fleißes über 500km.
Peter Ludden war als einzige Person bisher bei allen 11 Veranstaltungen dabei, Bild: Michael
Damiela, Bild: Axel
Norbert und Manfred, Bild: Michael
Karsten und Walter, Bild: Michael
Zu meiner Taktik
Meine überraschend hohe Kilometerleistung konnte ich nur erzielen, weil meine Renntaktik im Wesentlichen passte und ich viele, der üblichen Probleme nicht hatte.
Meine Ernährung basierte auf den Produkten der Firma Ultrasports. Ich hatte stets drei Flaschen (0,75l) mit unterschiedlichen Getränken bereitstehen. Rezepturen, jeweils mit Wasser aufgefüllt.
- Beetster: 4 EL
- Eiweiß-Zaubertrank: 2 EL Haferschmelzflocken, 3 EL Level X, 1 EL AddOn Amino
- Buffer-Cocktail: 4EL Buffer, 4 EL Refresher
Eine Flasche enthielt etwa 2 Portionen und meist habe ich halbstündlich im Wechsel eine Portion getrunken. Zusätzlich trank ich am offiziellen Versorgungspunkt noch Wasser oder Iso, zum Essen gerne ein alkoholfreies Radler. Der Veranstalter bot morgens Frühstück, mittags und abends ein kleines Menü aus Suppe und Hauptgericht an, welches an die einzelnen Häuser gebracht wurde. Außerdem gab es ab und zu Eis und rund um die Uhr warme und kalte Speisen und Getränke am Versorgungsbereich. Bei den kleinen Speisen am VP habe ich mich sehr zurückgehalten, Suppe habe ich nie, von den anderen Speisen lediglich etwas genommen. Aufgrund meiner Basisversorgung hatte ich nie Hunger oder das Gefühl von Schwäche. Außerdem hatte ich zu keiner Zeit Magenprobleme und wollte daher nicht mehr variieren, bzw. experimentieren als nötig.
Das wichtigste taktische Element ist die Verteilung der Zeit. Zunächst das Verhältnis von „auf der Strecke“ zur Pausenzeit. Bei der Pausenzeit habe ich viele kleine Erholungspausen gemacht und auch täglich zwei Schlafpausen – das war von der Anzahl und Länge ganz gut. Auch die tägliche Massage war eine gute Investition von Zeit. Nicht gut waren die Übergänge, wie Umziehen, Eincremen, Duschen, Toilettengänge. Diese Zeit ist einfach weg, hier macht man weder Kilometer noch erholt man sich. Da gibt es noch etwas Potential.
Auf der Strecke kann man in verschiedenen Tempobereichen laufen und gehen. Ich bin relativ viel gelaufen, vermutlich 75% meiner Strecke, langsam Laufen war für mich deutlich schneller und weniger anstrengend als schnelles Gehen. So hatte ich in vielen Runden lediglich 3 kurze Abschnitte, in denen ich langsam gegangen bin und den Rest bin ich langsam gelaufen.
Interessanterweise konnte ich, wenn ich die ersten Stunden, in denen ich zu schnell unterwegs war, außer Acht lasse, sowohl mein Laufstil als auch mein Lauftempo über die Tage einigermaßen halten.
Wichtig erscheint mir aber auch eine gewisse Flexibilität. So habe ich oft für kurze Stücke andere Mitläufer begleitet und bin dafür Laufabschnitte gegangen, aber nie bin ich Gehabschnitte gelaufen. Daher hatte ich mit den schnellen Läuferinnen und Läufern kaum Kontakt.
Bezüglich der Tagesaufteilung habe ich noch nicht meinen Rhythmus ausprobieren können – dafür kamen zu viele „Störungen“, die immer viel Zeit gekostet haben. Aber im Wesentlichen hat sich mein Plan bewährt, in 2 bis 3-Stundenblöcken zu planen. Etwa so:
0 bis 3 Uhr: 2 Stunden schlafen, 1 Stunde Rüstzeit; 0 km gelaufen
3 bis 6 Uhr: 21 – 23 km laufen
6 bis 9 Uhr: 30min Massage, Rest laufen, 16 – 18 km
9 bis 12 Uhr: 10min Pause, Rest laufen, 17 – 20km
12 bis 15 Uhr: 1 Stunde schlafen, 30min Rüstzeit, Rest laufen, 10 – 11km
15 bis 18 Uhr: 15 min Mittag, dann laufen, 17 – 20 km
18 bis 21 Uhr: 30 min Pause, Abendessen, umziehen für die Nacht, dann laufen, 17 – 20 km
21 bis 24 Uhr: 10min Pause (10 Uhr), Rest laufen, 15 – 18 km
Das sind dann etwa 110 bis 125 km pro Tag. Am ersten und zweiten Tag reichen ggf. kürzere Pausen und das Lauftempo ist etwas höher, sodass für mich 150 km, bzw. 130 km möglich sein sollten, falls keine Probleme auftreten.
Wichtig erscheint mir, dass man jederzeit bereit sein muss, seinen Plan sofort zu ändern. Das kann beispielsweise eine ungeplante Schlafenszeit sein oder Zeit für die Behandlung von Blasen. Auch hilft es manchmal mehr, sich mal fünf Minuten hinzusetzen und etwas zu essen, als kraftlos immer langsamer über den Asphalt zu schleichen. Dennoch ist hier die Strategie, um die maximalen Kilometer zu erzielen höchst individuell und insbesondere Altersklassenläufer erzielen ihre Weiten oftmals dadurch, dass sie täglich 20 bis 22 Stunden wandernd auf der Strecke sind.
Bezüglich Ausrüstung habe ich ebenfalls noch Optimierungsmöglichkeiten entdeckt, so dass eine Idee darin besteht, zunächst nach einem zielgerichteten Training meine Ausrüstung, Ernährung und Renntaktik im Rahmen eines 48h-Laufes zu erproben, um dann vielleicht nochmals mich an den 6-Tageslauf heranzuwagen.
Vielleicht hat nun jemand Interesse bekommen, einen 6-Tagelauf ebenfalls einmal ausprobieren. Nur zu! Es lohnt sich!
Zu dem Lauf gab es einen Bericht mit täglichen Informationen zum Rennverlauf: LINK
Ergebnisse DUV-Seite: LINK