Chiemgauer 100 – Ein Traillauf der Extraklasse

HoehenprofilDieser Lauf ist längst kein Geheimtipp mehr, denn dieses Jahr gab es bereits die 15. Austragung und dennoch ist der Lauf klein und familiär geblieben. Dabei bieten Gi, wie der Organisationleiter Giselher Schneider von Freunden genannt wird, mit seinen fleißigen Helfern den Teilnehmern ein breites Spektrum anspruchsvoller, alpiner Trailwettbewerbe und eine gut eingespielte Organisation, die den Vergleich mit den Marktführern absolut nicht scheuen muss. Dabei stand dieses Jahr unter keinem guten Stern. Der Wechsel des Veranstaltungsgelände zum Biathlonzentrum brachte eine komplette Neuplanung der Strecken mit sich. Schnee und Sturmschäden machten weitere auch kurzfristige Streckenänderungen erforderlich. Selbst der eine Woche vor dem Start „finale Track“ stimmte mehrfach nicht mit der Markierung überein – was soll’s, die Markierung war für eine Kleinveranstaltung unglaublich gut.

Ich hatte mich erst relativ kurzfristig angemeldet. In den letzten Monaten kam mein Training viel zu kurz. Ohne richtigem Training und Ambitionen hatte ich im ersten Halbjahr einige schlechte Wettkämpfe und wollte nun einmal ein Wochenende für mich mit einem Lauf in einer schönen Landschaft. Und: mich natürlich ordentlich vorbereiten. Das war natürlich sehr optimistisch gedacht und entwickelte sich leider etwas anders. Immerhin konnte ich wettkampfspezifisch etwa 1,5 Wochen vor dem Lauf mit Rucksack und Stöcken 2 Tage durch die Eifel laufen. Bei 30 bis 40 Grad war es das reinste Vergnügen und ich wünschte mir warmes Wetter – so wie letztes Jahr in Ruhpolding. Doch irgendwie überforderte die Eifeltour meine unvorbereitete Muskulatur, die bei der nächsten Trainingseinheit mit einer Zerrung antwortete. Am Dienstag vor dem Lauf versuchte ich eine lockere Einheit, musste jedoch nach 3 km schmerzbedingt umdrehen und zurückwandern.

Ohne Training und leicht verletzt machte ein Start eigentlich kaum Sinn, zumal der Wetterbericht Regen und Gewitter vorhergesagt hatte, bei immerhin angenehmen Temperaturn.

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Da Kneifen selten eine gute Lösung ist, reiste ich mit einem vorsichtigen Plan an, der ein Finish der 100-Meilenstrecke knapp unter dem Zeitlimit vorsah. Ruhpolding begrüßte mich mit Sonnenschein und einem Panorama voller Berggipfel, wo ich definitiv nicht rauf wollte.

Der 100-Meilenlauf besteht aus zwei Runden. Nach etwa 90 km kommt man wieder in der Chiemgau-Arena an und startet in die zweite Runde, die überwiegend identisch mit der 100km-Strecke ist. Die 100km-Läufer starten um 5:00 Uhr und beginnen mit einer Auftaktschleife, bevor die Strecken zusammenkommen. Die 100-Meilenläufer müssen abschätzen, wie lange sie für die erste Runde brauchen und ihre Startzeit am Freitagnachmittag selbst so festlegen, dass sie etwa zwischen 4:30 und 7:30 die zweite Runde beginnen können.

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Vor dem Lauf gab es noch ein kurzes Briefing, in dem Gi auf ein paar Besonderheiten des Laufes hinweis.

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Bei der Gelegenheit traf ich Gerd Kirschke, der leider nicht das Ziel erreichte. Außerdem war noch Michael Müller dabei, der für 100km gemeldet war und die 85km-Distanz finishte.

Kurz vor dem Start verdunkelte sich der Himmel, die Schleusen öffneten sich und ein erster, kurzer Starkregen ärgerte die Läufer. Also Regenjacke an und nur fünf Minuten später konnte ich die Regenjacke gegen eine dünne Windjacke wechseln. War ich am Anfang Letzter, so war ich jetzt Allerletzter, sprich, ich konnte den vor mir laufenden Läufer nicht mehr sehen. Der Lauf begann bei mir mit drei flachen Kilometern in 19 Minuten. Hm. Auch mein Plan war es, bei den einfachen Kilometern etwas Zeit gutzumachen, die ich dann berghoch und in den technisch schwierigen Abschnitten benötigen würde, aber so schnell widerstrebte mir und so dackelte ich gemütlich den Forstweg entlang meiner Startgruppe hinterher. Der Anteil an Forstwegen ist schon recht hoch, teilweise den vielen notwendigen Umleitungen geschuldet, da die Wälder mit den kleinen Wanderwegen noch teilweise gesperrt sind. In mir reifte der Gedanken, mir im nächsten Jahr noch einmal die Originalstrecke anzusehen, denn die Gegend beeindruckt doch sehr.

Der erste Gipfel beeindruckte nicht minder. Es ging steil hoch und ebenso „brutal“ wieder runter. Das kann doch kein Wanderweg sein, das scheint mir eher etwas für Selbstmörder. Ab und zu lief ich längere Abschnitte mit einer Begleitung – es waren die zwei Mal, in denen ich mich kurz verlief. Dennoch waren die Gespräche sehr nett und ich stelle fest, dass die meistern Teilnehmer zum wiederholten Mal da waren und überwiegend eine negative Bilanz hatten, was das Finish angeht.

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Bei einer Gelegenheit, als die Sicht einen Blick auf den der Region namensgebenden Chiemsee ermöglichte, entstand dieses Bild.

Aus der Streckenbeschreibung und dem Höhenprofil hatte ich mir einen Plan überlegt, wann ich an den jeweiligen VPs sein wollte und überraschender Weise war ich überwiegend schneller unterwegs, weil die ausgesetzten Wege in der Minderheit gegenüber den gut laufbaren Forstwegen hatten, in denen ich gut meine Stöcke einsetzen konnte und entsprechend schnell vorankam.

So erreichte ich bereits eine Stunde vor dem Plan gegen 5:15 Uhr die Chiemgauarena, wo ich das Shirt wechselte und mich einiger Dinge entledigte. Mir ging es eigentlich ganz gut. An einer Stelle hatte ich die Schuhe etwas ruiniert, als ich mir beim Stolpern fast die Kappe komplett vom Obermaterial abriss. Die Schuhe haben nun ihre Schuldigkeit getan und wurden am nächsten Morgen direkt an Ort und Stelle beerdigt. Schade eigentlich. Nun sammelte ich fleißig mal Steine mal Tannennadeln ein, die mal drückten, mal piksten.

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Anfang der zweiten Runde nach Sonnenaufgang im Regen entstand dieses Bild.

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Auch so eine Stelle gab es einmal, als man im hohen Gebüsch den Weg mehr vermuten als sehen konnte.

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Solche Wege liebe ich: schmal, zwischen Fels und Abgrund, dennoch flach und mit wenig Stolperfallen ausgestattet.

Von den ständig nassen Socken deuteten sich erste Blasen an, aber ich war doch recht optimistisch, die fehlenden 71 km zu schaffen, zumal ich dafür noch etwa 17,5h Zeit hatte. Leider verschlechterte sich der Zustand der Füße stündlich und berghoch merkte ich, dass die Kraft in den Beinen komplett verschwunden war und ich viel mit den Armen arbeiten musste. Immerhin konnte ich die Forstwege bergab noch gut laufen und kam daher gut voran. Für mich war der kritische Punk im Abschnitt zwischen km 119 und 123. Unglaublich, wie schnell sich Optimismus verflüchtigen kann!

Ich hatte für den letzten Marathon noch fast 13 Stunden Zeit und selbst bei streikenden Füßen und mit wenig Kraft sollte das möglich sein. Doch nur kurz hinter dem VP Kohlstatt bei km 119 führte der Weg eine Skipiste hoch. Nicht senkrecht, aber fast. Dieser Abschnitt war so deprimierend! Es war ein rutschiger Wiesenweg, der unglaublich steil und rutschig war. Alle zwei Schritte musste ich stehenbleiben, damit der Puls von maximal auf hoch fiel. Für die geschätzten 500m habe ich fast eine Ewigkeit gebraucht und mir wurde klar, dass das Zeitpolster recht trügerisch war. Laufen tat mittlerweile weh, so dass ich auch bergab viel gehen musste. In dieser Phase setzte nun ein langanhaltender Starkregen mit Gewitter und einem Temperatureinbruch ein. Als ich am nächsten VP bei km 123 ankam, war ich völlig im Eimer. Die untere Hälfte patschnass, vor Kälte zitternd, mit dem linken Fuß konnte ich kaum mehr Auftreten, rechts hatte ich wohl auch eine Blase, mental war ich bereit, in ein Taxi zu steigen, sollte dort eins stehen und mich der Fahrer, so wie bin, mitnehmen.

Von all den Optionen, die ich hatte, entschied ich mich, die abgekürzte Variante zu versuchen. 23 km vor Schluss, also bei km 138 bietet sich am dortigen Versorgungsstand die Option, den letzten Gipfel zu überqueren oder die abgekürzte Variante ins Ziel zu nehmen und als Finisher mit 146km das Rennen zu beenden. Der letzte Gipfel über den Hochfelln ist brutal steil rauf wie runter, technisch sehr anspruchsvoll und versprechen noch einmal mühsame 800 Höhenmeter bergauf und 1000 bergab, bei Gewitter ist der Weg oben am Grat entlang lebensgefährlich. Wie die Ergebnisliste zeigt, nahmen disziplinübergreifend etwa 50% der Teilnehmer diese Variante. So hatte ich etwa 12h Zeit für die verbleibenden 23 km. Und es wurde der schwerste und längste „Halbmarathon“ meiner Laufkarriere, denn ich benötigte fast 9 Stunden für die restliche Distanz. Immerhin hörte der Regen irgendwann auf und ich meine Betriebstemperatur normalisierte sich. Dennoch stellte ich mir permanent die Frage, ob so ein Finish Sinn macht. Zum einen gab es kaum eine Alternative und Ja, ein Finish macht immer Sinn. Von den 38 auf der 100-Meilenstrecke gestarteten Läufer und Läuferinnen sind lediglich 10 die Gesamtdistanz gelaufen und 9 finishten auf der 146km-Strecke und ich werde sogar auf Platz 5 genau in der Mitte aufgelistet. Schon beeindruckend!

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Etwa bei km 135 liefen wir an Ruhpolidng vorbei, welches sich in der untergehenden Sonne von seiner schönsten Seite zeigte.

Auch wenn die 146km-Finisher für ihren Erfolg gefeiert wurden, bin ich mir persönlich bei der Einordnung nicht sicher. Mein Ziel war simpel: 100 Meilen sollten es sein! Meine Form war ausreichend, die Ausrüstung super, die Taktik passte. Von allen Dingen, die sich zum „Aufgeben des 100-Meilenzieles“ kumulierten, waren die aufgequollenen Füße der entscheidende Faktor, den man mit einem morgendlichen Eincremen mindestens hätte herauszögern können – was für ein dämlicher Anfängerfehler, so etwas zu vergessen!

Ich denke, dass ich das Finishershirt in meinem Stapel ganz nach unten legen werde, aber im nächsten Jahr versuchen werde, es mir redlich zu verdienen.

Ruhpolding – ich komme wieder, dann gerne auf der Originalstrecke und bei strahlendem Sonnenschein.

Text und Bilder: Michael Irrgang, Höhenprofil: Veranstalter, 04.08.2019

 

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