Wie kommt man auf die Idee, den Rheinsteig komplett und am Stück zu laufen? So richtig weiß ich das auch nicht mehr. Es muss vor 3 ½ – 4 Jahren gewesen sein, dass ich mich bei Michael Eßer für den WiBoLT 2017 angemeldet habe. Mit der Vorerfahrung von 4 Rennsteig Supermarathon Teilnahmen und bis dahin einem 100 km Lauf auf flacher Strecke im Leipziger Auenwald. Einige Abschnitte des Rheinsteigs kannte ich bereits von diversen Wanderungen und Erkundungsläufen, da ich nur 18 km vom Start in Wiesbaden-Biebrich entfernt wohne.
2017 ging tatsächlich alles gut und ich kam auf Gesamtplatz 6 nach offiziellen 75:58h (es waren eigentlich 75:43h ?) ins Ziel in Bonn. Michael Eßers Spruch, dass ein einmaliges Finish durchaus etwas mit viel Glück zu tun haben kann, wurmte mich doch ein wenig. Also für 2018 wieder angemeldet. Dass der Start dann erst im Jahr 2019 sein sollte, war durch den Ausfall des WiBoLT 2018 bedingt. 2019 stand ich also wieder an einem Mittwochnachmittag vor Fronleichnam vor Schloss Biebrich und traf viele bekannte Gesichter. Schnell noch ein Foto mit den LGU’lern Nicole Kresse und Stefan Henscheid geschossen (wie sich später herausstellte war auch Michael Vorwerg am Start) und ab ging es um 18 Uhr bei schweißtreibenden 33°C auf die lange Reise.
Nach ca. 1,5 km an der ersten baustellenbedingten Umleitung nicht den direkten Weg über die Baustelle gewählt, sondern einfach mal vorweg gelaufen und der offiziellen Umleitung gefolgt. Naja, das sollte nicht die letzte Fehlentscheidung sein, denn nicht viel später geht die Rheinsteigstrecke durch ein ausgedehntes Schrebergartengebiet und auch dort habe ich mich prompt wieder verlaufen und ordentlich Zusatzstrecke gemacht. Bis Schlangenbad hatte ich statt 16,7 km bereits gut 20 km auf der Uhr. Was soll’s! Hier war Cathrin auch vorerst letztmalig an der Strecke, bevor es zum nächsten geplanten Treffen kurz hinter der Loreley kommen sollte.
Auf dem Weg bis Schlangenbad hatte sich das 38-köpfige Läuferfeld bereits gut auseinandergezogen und ich beschloss, mein gemächliches Tempo im Alleingang zu laufen. Das Areal von Kloster Eberbach wurde in diesem Jahr nicht umlaufen, sondern eine Umleitung führte einmal im ZickZack über das Klostergelände. Da war es auch bereits Zeit die Stirnlampe herauszuholen – Dunkelheit und das Erkennen der kleinen blauen Schilder der Rheinsteigausschilderung sind noch mal eine besondere Herausforderung. Die Wärme des Tages wollte auch nicht wirklich weichen und in den Wäldern stand die Luft.
Also versuchen die Konzentration hoch zu halten um möglichst keinen Abzweig verpassen, denn beim letzten Mal war ich noch kurz vor Kloster Mariental an einem Abzweig, der auf einem Downhill runter zum Kloster führte, vorbeigelaufen und musste gut einen Kilometer zurück. Also komplett auf die Ausschilderung konzentriert und zack haut es mir die Füße weg. Ich knalle ungebremst auf Schulter, Unterarm und Knie. Grhhhh!!! Nach nur 40 km ordentliche Prellungen und Abschürfungen. Der nächste VP ist auch noch ca. 17 km entfernt. Bis zum Niederwalddenkmal mache ich also erstmal schön gemächlich und bin froh, mir dort die Wunden spülen zu können. Bleibe dort auch gute 25 min. am VP und esse/trinke erstmal ordentlich. Zeitlich bin ich gut 1 ½ h hinter der 2017er Durchgangszeit zurück.
Der nächste VP wartet nach ca. 75 km in Lorch. Dort komme ich wenige Minuten nach 6 Uhr an. Läuft eigentlich ganz gut und ich bin wieder im Soll. Das Knie brennt allerdings ganz ordentlich. Ich schaufle mir eine Tomatensuppe mit Laugenbrötchen rein, dazu viel Cola und ab geht es wieder auf die Strecke. Wieder in Schwung zu kommen fällt allerdings nicht leicht. Es geht auch gleich steil die Weinberge hoch und ich schätze es nicht nur hier in diesem Jahr leichte Laufstöcke dabei zu haben. Auf dem Weg zur Loreley Schule mache ich am frühen Vormittag noch einen Stopp an einem kleinen Hotel in Dörscheid und spüle ein alkoholfreies, eiskaltes Weizen mit einem halben Liter Cola runter. Was für eine Wohltat und Abwechslung zum lauwarmen Wasser aus der Trinkblase. Dafür zahle ich dann auch gern auf dem Dorf den Großstadtpreis von €9,80. Die Strecke ist bis dahin wunderschön und bietet immer wieder prächtige Ausblicke auf das Rheintal.
An der Loreley Schule (km 107) werde ich von Cathrin mit einem aufmunternden Kuss und frischem Obstsalat begrüßt. Raus aus den verschwitzen Klamotten und nach ca. 19 h Laufzeit eine Dusche sind Wohltat. Die Abschürfungen brennen allerdings wie Hölle. Wie geplant lege ich mich für eine Stunde im Auto aufs Ohr und gegen 14:55 Uhr geht es wieder auf die Strecke.
Auf der Etappe bis Kestert gibt es bei Burg Maus und Wellmich wieder heftige Auf- und Abstiege. Am VP Uschis Wanderstation (km 125) treffe ich auf Nicole und Michael. Die gekühlten Getränke aus Uschis Kühlschrank munden uns vorzüglich. Weizenbier und Käsekuchen sind meine bevorzugte Kombination. Seltsam welche Gelüste man so entwickelt. Nicole bricht vor mir auf und Michael will sich erstmal aufs Ohr legen.
Wenige Kilometer später überhole ich Nicole wieder. Zu dieser Zeit ziehen bereits nördlich von uns Gewitter vorbei. Kurz hinter Lyckershausen fängt es dann leicht an zu tröpfeln, doch der Regen wird schnell sehr intensiv. Das bedeutet auch, die Strecke wird matschig und glatt. Nicole zieht im Regen auf einer abschüssigen Serpentinenstrecke souverän an mir vorbei. Da ich keine Lust habe mich schon wieder lang zu machen, geht es für mich schön vorsichtig bergab. Es folgen einige durchaus ganz gut laufbare Abschnitte und ich komme noch bei Tageslicht in Filsen an einer Bank vorbei, auf der ich 2017 nachts gute 2 h geschlafen habe (Zwangspause zum Stirnlampe laden).
Richtig unangenehm sind jetzt die Single Trails über Wiesen mit hohem, nassen Gras, das in die Strecke reinhängt. Im Wald ist es dafür extrem glitschig auf den Wegen und bereits wieder so dunkel, dass die Stirnlampe wieder zum Einsatz kommt. So vorsichtig ich auch bin, haut es mich doch nochmal so richtig in den Matsch. Die Motivation geht ziemlich in die Knie.
Den nächsten VP in Braubach (km 160) sehne ich herbei. HALBZEIT! Bleibe am VP auch länger als geplant und mach es mir auf drei Stühlen bequem. Döse gut 1 ½ h vor mich hin und will eigentlich überhaupt nicht weiter. Aus der Wärme des Braubacher Rathauses in die Kälte der Nacht zu starten, kostet echt Überwindung. Allerdings steht eine recht kurze Etappe bis zur Ruppertsklamm bevor.
Der Abstieg von Lahnstein nach Friedland läuft richtig gut und ich treffe am Zugang zur Ruppertsklamm auf Marina Kollossa mit ihrer Begleitung. Jetzt noch die wildromatische Klamm durchstiegen und am oberen Ende wartet der beste VP auf der gesamten Strecke. Eine Grillhütte mit Lagerfeuer und lecker Essen im Morgengrauen. Zu der Zeit liege ich gut 2 ½ h vor meiner 2017er Zwischenzeit. Also richtig gut aufgeholt.
Auf der Strecke runter nach Koblenz überhole ich Marina wieder, da sie nur kurz an der VP verweilt hat. War ich bei meinem ersten WiBoLT noch auf dem Gelände der Festung Ehrenbreitenstein in Koblenz umhergeirrt, war ich diesmal besser vorbereitet. Allerdings ging es gerade mal wieder konditionell und mental in ein Loch. Das kann sich aber so schnell ändern, wie es kommt. Kam aber erstmal nicht. Also durchhalten bis Vallendar (km 191) da dort die Aussicht auf frische Socken, die Cathrin für mich an Bord hatte, bestand. Oft können kleine Dinge motovieren.
Ankunft in Vallendar um 9:10 Uhr und am Brunnen die qualmenden Füße gewaschen. Frische Socken an die noch immer blasenfreien (!!!) Füße gezogen und die Welt sah schon wieder freundlicher aus. Da ich es überhaupt nicht eilig hatte, wurde erstmal das zweite Frühstück eingenommen und gegen 10:05 Uhr ging es wieder auf die Strecke.
Der Tag sollte wieder richtig warm werden und die anstehende Etappe bis Rengsdorf ist mit ca. 20 km lang. Auf dem Abstieg ins Tal von Sayn bin ich dann auch wieder gut 1,5 km falsch in Richtung Tal gelaufen. Also zurück den Berg hoch und wieder auf die Originalstrecke. Diese Kilometer tun richtig weh. Nicht nur körperlich, vor allem mental. Dazu kam, dass meine Getränkevorräte zu Ende gingen und ich mir in Sayn Nachschub organisieren musste. Wieder 1,5 km in Sayn zusätzlich gelaufen! Aber alternativlos.
Der Stopp in Rengsdorf (km 211) fiel mit gut 45 min. eher kurz aus. Ist aber auch kein VP der zum langen Verweilen einlädt. Es ist jetzt später Nachmittag und die Strecke führt hinunter ins Wiedtal. Ich komme aus dem Wald und die Sonnenhitze trifft mich mit voller Wucht. Von hier geht es mit nur wenig Schatten bei glühender Hitze den Berg hoch. So ähnlich muss es sich wohl beim WSER in den Canyons anfühlen.
Am späten Abend treffe ich um 21 Uhr am VP Feldkirchen (km 231) ein. Hier haben sich schon einige Läufer zur Ruhe gelegt. Bei mir gibt es eine Dusche und dann geht es für 1 ½ Stunden auf die Matratze im Auto. Todesähnlicher Schlaf tritt sofort ein. Als ich mich in frische Laufklamotten schwinge, treffe ich auf Stefan und Michael, die gerade angekommen sind und unter die Dusche wollen. Cathrin verabschiedet mich um 23:24 Uhr mit einem dicken Kuss in die nunmehr dritte Nacht. Das nächste Treffen sollte es am VP in Arienheller geben.
Die anstehende Etappe wurde wieder sehr wild. Wild im Sinne von Wildschweinen. In den Wäldern zwischen Feldkirchen und Arienheller sind unfassbare Rotten unterwegs. Was kommen da auch nachts irgendwelche seltsamen Typen mit Licht auf dem Kopf durch den Wald. Wie dann die Schweinchen mit Getöse ins Unterholz flüchten ist beeindruckend und auch ein wenig beängstigend. Die Weinberge in diesem Gebiet sind alle eingezäunt. Sicher wegen der vielen Wildschweine. 3:10 Uhr treffe ich in Arienheller (km 255) ein. Ein VP der in diesem Jahr nur aus einer Bank mit Verpflegung, allerdings ohne Betreuer besteht. Meine Laune ist gar nicht so schlecht. Cathrin schläft auf dem Parkplatz im Auto, ist aber sofort munter als ich eintreffe. Die Unterstützung durch einen persönlichen Betreuer ist einfach Gold wert!
Mein Race Modus besteht mittlerweile aus einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Roboter. Das ist genau die richtige Mischung für Verlaufaktionen. Kurz vor Linz biege ich mal wieder auf die falsche Seite eines Tals ab und sehe auf der gegenüberliegenden Seite Nicole im Laufschritt vorbeiziehen. Sollte die letzte Begegnung mit ihr auf der Strecke sein. Für mich 2-3 km zusätzlich. Egal! Weiter, immer weiter!
Kurz hinter Linz kommen dann wieder brutale Anstiege in Richtung Erpeler Ley und danach geht es auf eine große Runde durchs Siebengebirge. Irgendwie sind gleichzeitig Uhr, Handy und Powerbank am Ende. Also Tracking aus und nur noch nach der Uhrzeit orientiert. Irgendwie schleppe ich mich durchs Siebengebirge. Ewig lange Anstiege, die auch noch – wie der hoch zum Himmrich – richtig steil sind, ziehen mir den Stecker. Irgendwann taucht die Löwenburg auf und von da sind es noch 3,8 km bis zum letzten VP. Nach einigem kommunikativen Blödsinn mit Cathrin (klares Denken war da bei mir schon vorbei), die am VP Rhöndorf auf mich wartet, bin ich dann um 14:30 Uhr dort. Die letzten 2 Kilometer gehen richtig flott. Immer wieder ein Wunder was auch nach 295 km noch geht.
In Rhöndorf geht es um 15 Uhr auf die letzten 25 km. Dass auch die nochmal richtig hart werden, da es hoch zur Drachenburg und über den Petersberg geht, war mir klar. Immerhin lag ich auch gut zwei Stunden hinter meiner Zeit von 2017. Von einer Verbesserung meiner Gesamtzeit hatte ich mich schon lange verabschiedet. Auf welchem Gesamtplatz ich lag, war mir auch völlig egal. Also über den Drachenfels geschleppt und auch über den Petersberg. Bereits beim Abstieg vom Petersberg merkte ich, wie die Lebensgeister zurückkehrten. Die Beine und die Laune verbesserten sich schlagartig. Ich lief in ein echtes Runners High, das für einige Kilometer anhalten sollte. Wow, was für ein geiles Gefühl! Als ich bereits am Rand von Bonn mal wieder Facebook checke, entnehme ich einem Post von Cathrin, dass sie mich gegen 23 Uhr erwartet. Da muss ich sie klar enttäuschen. Auf der Rheinbrücke kurz vor der Bonner Innenstadt halte ich noch einen Schwatz mit einem Radfahrer, der gut über den WiBoLT informiert ist. Man trifft auch unterwegs immer wieder Leute, die mit diesem Lauf etwas anzufangen wissen und einem höchsten Respekt zollen.
Dann ist es soweit. Es geht die letzten Meter weg vom Rhein in Richtung Innenstadt und Bonner Marktplatz. 21:02 Uhr und damit nach 75:02h bin ich überglücklich und erschöpft im Ziel. Gesamtplatz 6 hinter Nicole. Ich kann endlich meine Frau, den besten Supporter der Welt, in die Arme schließen. Dann folgen die obligatorische Siegerweste, Glückwünsche und eine Fotosession. WiBoLT das zweite Mal gefinished. Nix Zufall oder extrem viel Glück! Da scheint wohl doch mehr dahinter zu stecken.
Kurze Zeit später sitze ich frisch geduscht vor einem riesigen Teller Sülze mit Bratkartoffeln und das nur wenige Meter vom Ziel entfernt. Herrlich, endlich etwas Herzhaftes nach 3 Tagen mit überwiegend süßem Essen und Trinken.
WiBoLT 2020? Nein, definitiv nicht. 2021? Mal schauen!
PS: Einfach nur genial war, dass alle 4 Starter der LGU auch zu den Finishern gehören. Respekt und herzlichen Glückwunsch nochmal an Nicole, Stefan und Michael!
Text: Klaus Haake, Bilder: Klaus und Cathrin Haake, 30.06.2019