“No one will leave the tent without proper rain pants and waterproofed warm gloves!“ Nach dem Aufwärmen im Zelt und einer kleinen Verpflegung mit warmer Brühe und Baguette stehe ich mit einigen Läufern am Zeltausgang, um die nächste Etappe über den Col Ferret (2490m) auf der Südseite des Mont Blanc in Richtung Schweiz anzugehen. Seit der letzten Station, der Rifugio Bonatti bläst der Wind vom vor uns liegenden Gletscher herunter und es ist kalt. Es erwartet uns ein langer Aufstieg auf 2600m mit Wind, Schneefall und reichlich Matsch.
Es ist nach 2015 und 2016 mein dritter Start beim UTMB, dem berühmten Ultramarathon, der mit 171k und rund 10 000 Höhenmetern um die Mont Blanc Gruppe geht. Die UTMB-Runde startet in Chamonix, führt dann über St. Gervais und Contamines nach Courmayeur und dann über Champex-Lac, Trient und Vallorcine zurück nach Chamonix. Es sind Teilnehmer aus 58 Nationen vertreten. Bei meiner Anreise schaut es wie in den letzten zwei Jahren aus. Es ist sommerlich warm und ich bin in freudiger Erwartung optimaler Laufbedingungen. Der Wetterbericht und der vorsorgliche E-Mail-Hinweis des Veranstalters prophezeien allerdings für das Laufwochenende einen deutlichen Temperatursturz, starke Regenfälle in den Niederungen, Schnee in den Hochlagen und starken Wind. Auf den Bergen über 2000m soll die gefühlte Temperatur auf bis zu -9 C absinken. Der Veranstalter verändert daher vorsorglich die Strecke leicht, so dass von den 171k rund 167,5k mit 9500 Höhenmetern bleiben.
Startbogen in Chamonix
01. September, Freitagabend, 18:30 in Chamonix – das Mont Blanc Dorf (oder vielleicht auch nur ich …) steht kurz vor dem Kollaps. Die Moderatoren heizen die Stimmung an und weisen die Läuferschaft freundlich daraufhin, dass sie eine lange Laufrunde mit Freude, Schmerz, Zweifeln und Pein erwartet. „Conquest of Paradise“ von Vangelis beschallt ganz Chamonix und sorgt für die nötige emotionale Atmosphäre. Ich bin froh, dass es endlich losgeht!
Das Wetter ist uns zunächst gut gesonnen. Es ist wolkig und es nieselt allenfalls ein wenig. Als ich am Top des ersten Berges, den Delevret ankomme, wird es dunkel, es regnet nun stärker und dichter Nebel lässt die Sicht im reflektierenden Licht der Stirnlampe unter 1m sinken. Als schlechter Starter tue ich mich nun mit beschlagener Brille beim anstehenden Downhill besonders schwer. Weil ein „Unglück“ selten allein kommt, bricht nun auch noch einer meiner Karbonstöcke ohne für mich ersichtlichen Grund und ich darf die Reise mit einem Stock fortsetzen. Ich vereinbare telefonisch mit Susanne, die mich bei den zugelassenen Verpflegungsstationen in der zweiten Nacht unterstützen möchte, dass ich vor dem Anstieg zum Bonhomme am Gorge de Notre Dame meine Ersatzstöcke bekomme. In allen Ortschaften, die wir durchlaufen, ist Party-Stimmung und es mangelt nicht an „Allez“- und „Bon Courage“-Zurufen. Der Anstieg zum Bonhomme, zunächst steil über Felsplatten und später über steile Singletrails, will nicht aufhören, bereitet mir aber – nun wieder mit zwei Stöcken ausgerüstet und gut gelaunt – keine Probleme. Nach rund 35k scheine ich auch meine „schwache Startphase“ überwunden zu haben und ich kann viele Plätze gut machen. Die „Maschine“ hat Betriebstemperatur erreicht und „es läuft“. Am nächsten Berg, dem Col de la Seigne, dämmert es gerade und das morgendliche Licht wird durch die weiß verschneite Berglandschaft verstärkt. Meine Handschuhe sind nicht die besten und ich bemühe mich, wieder Gefühl in die kalten Finger zu bekommen. Endlich beginnt der Abstieg zum Lac Combal. Wir sind in Italien. Es wird wärmer und ich freue mich auf Courmayeur. Die kleine technische Schleife über die Pyramides Calcaires fällt wegen des schlechten Wetters aus, so dass uns der nächste Aufstieg hinauf auf den Mont-Favre führt.
Blick vom Mont Favre, Italien
Das Runterlaufen vom Mont-Favre nach Courmayeur macht Spaß. Die Sonne scheint und die Jacke kann im Rucksack verschwinden. Ich laufe gegen halb zwölf in Courmayeur ein. Wir haben nun fast 80k in den Beinen. Ich fühle mich leicht geplättet, bin aber gut gelaunt. Die Altstadt wirkt einladend nett und wir werden begeistert begrüßt. In der Verpflegungsstation vertrödele ich wie gewohnt beim Kramen in meinen Sachen ewig viel Zeit. Dabei wechsele ich eigentlich nur die Socken und esse ein wenig Baguette und Käse. Der anschließende Aufstieg zur Rifugio Bertone ist sonnig und steil. Die Regenjacke bleibt erst einmal im Rucksack. Ich treffe Luke, einen freundlichen und redseligen Engländer aus Dorset. Sein Dorset-Somerset-Dialekt bereitet mir leichte Verständnisprobleme und wird mir die Zeit bis kurz vorm Zieleinlauf verkürzen. Ab der Rifugio Bonatti kommt uns der Schnee oder Graupel bei kräftigem Wind waagerecht entgegen. Der Singletrail hinunter zur Verpflegungsstation in Arnouvaz ist so matschig, dass ich mich kaum auf den Füßen halten kann. In Arnouvaz ziehen wir alle verfügbare Kleidungsstücke an. Der Col Ferret empfängt uns schon beim Aufstieg mit einer steifen Brise und leichtem Schneefall. Luke quittiert den endlosen Anstieg mit einem trockenen „relentless“. Den Rest seiner Worte verstehe ich nicht – vielleicht auch besser so. Oben bei rd. 2600m angekommen, können wir keine Pause einlegen, sondern müssen sofort runter Richtung Schweiz, um nicht im Wind bitter auszukühlen. Wir laufen zügig die rd. 14k nach La Fouly hinunter. Es wird schnell wieder wärmer, aus dem Schnee wird leichter Regen und der Wind lässt erfreulicher Weise nach. Nach La Fouly ist die Strecke wegen der durchwachsenen Wetterverhältnisse wiederum verändert und wir laufen ein paar Kilometer auf Asphalt. Der Aufstieg nach Champex verwöhnt uns allerdings wieder mit einem steilen Trail (irgendwo müssen die Höhenmeter ja herkommen) und Matsch. Letzterer wird uns das Laufen auf den nächsten beiden Etappen nachhaltig schwer machen.
Am VP in Champex
Aber zunächst wartet in Champex die liebe Susanne mit heißer Suppe, Kartoffeln und alkoholfreiem Bier – eine Wohltat. Danach wartet aber unvermeidlich der lange Aufstieg hinauf zur berüchtigt steilen Bovine. Matsch ohne Ende lässt mir den Aufstieg unendlich lange, steil und mühsam vorkommen. Beim Abstieg nach Trient wird der Matsch noch durch rutschige runde Felsblöcke „verfeinert“ – der UTMB ist schließlich ein Traillauf. Ich komme vollends entnervt in Trient an und wir legen eine kurze Schlafpause von zehn Minuten ein. Die nächste Etappe nach Vallorcine ist da wesentlich erfreulicher. Hinauf auf die Catogne genießen wir die ersten Sonnenstrahlen des Sonntagmorgens und hinunter nach Vallorcine geht es über einen sehr gut laufbaren Singletrail – ein schöner Sonntagmorgen. Von Vallorcine laufen wir über mehr oder weniger flach zum Col de Montet. Auch hier ist der Streckenverlauf wegen des Schlechtwetters des Vortages verändert und wir dürfen nicht auf den Tete aux Vents hinauf, sondern laufen über Felsblöcke und –platten, unterbrochen durch nette Singletrail-Passagen im Hoch-Runter-Zickzack Richtung Les Praz, um dort final zur letzten Station an der Seilbahnstation La Flegere hochzusteigen – die letzten Höhemeter! Von hier hat der UTMB bis zur Ziellinie noch schmale 8k über felsiges Downhill-Terrain. Ich bemühe mich, möglichst schnell hinunter zu kommen und freue mich auf ein kühles Finisher-Bier! Nach 44:13h laufe ich in Chamonix über die Ziellinie.
Im Ziel angekommen
Trotz der leicht veränderten Strecke hat der UTMB für seine Teilnehmer alle Register gezogen: Sonne, Regen, Schnee, Wind, Matsch oder besser viel Matsch, Fels, knackige Anstiege, coole Downhills und technisch zu laufendes Terrain – UTMB ein komplettes Paket, all inclusive.
Text und Bilder: Stefan Henscheid, 7.9.2017